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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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Deutschland brauche: die Möglichkeit eines kraftvollen Auftretens nach außen
und gesicherte Freiheit im Innern. Ob sie formell noch zu Recht bestehe oder
nicht, das zu entscheiden unternehme man nicht, sondern überlasse es dem
staatsmännischen Gewissen jedes Einzelnen. Es genüge, daß sie ein recht¬
mäßig gewonnener Ausdruck der Bedürfnisse und des Willens der Nation sei.
Wenn sie ihre Mängel habe, große Mängel vielleicht, fo möge sie abgeändert
werden, sobald durch eine auf ihrer Grundlage einberufene deutsche Volksvei-
tretung das rechte Mittel dazu vorhanden sei.

Man wird diesen Bestimmungsgründen noch einiges Andere hinzufügen
können. Die Schwächen der Reichsverfassung sind jetzt so groß nicht mehr,
wie zur Zeit ihrer Entstehung, da die volkswirtschaftliche Reformagitation
seitdem das Capitel von den Grundrechten ins allgemeine Verständniß und
großentheils bereits selbst in die Gesetzgebung der einzelnen Länder eingeführt
hat. Für die demnächstige Entscheidung der jetzt offen gelassenen Frage des
Oberhaupts ist in Verbindung mit der ausdrücklichen Bezugnahme auf das alte
Programm gerade das Stillschweigen eine nicht geringe Bürgschaft, wenn man-
hinzuhält, daß weder hier in Koburg noch vorher in Weimar irgend ein Mensch
auch nur versuchte, der preußischen Hegemonie ein Wörtchen der Anerkennung
zu sichern. Hat doch die preußische Fortschrittspartei zu dem hier gefaßten Be¬
schlusse im Voraus zugestimmt, und somit theilweise ergänzt, was eben in
Norddeutschland bisher fehlte: Aufnahme der Reichsverfassung ins liberale Be¬
wußtsein. Dieser haben indessen auch das Nationalvereinsprogramm von 1860
und der erste deutsche Abgeordnetentag schon vorgearbeitet, indem sie die Reichs¬
verfassung als den "rechtlichen Ausdruck" der von der Nation geforderten
bundesstaatlichen Einheit anzogen. Zu dem Schritte, der darüber hinaus jetzt
gethan ist, drängte die Entwicklung, welche der Rcformkampf in Deutschland
neuerdings offenbar genommen hat. Die auswärtigen Wolken haben sich ver¬
zogen, aber im Innern des größten deutschen Staats ballen sich schwere Dunst¬
massen unheildrohend zusammen. Wo Schutz und Rettung suchen? Der Jn-
stinct der Menge sagt, in einem nationalen Parlament; und wer ihr daher ein
Parlament bietet, der wird sie haben, wenn er es halbwegs gescheidt anfängt.
Bevor der Nationalverein zu seinem jetzigen "kühnen Griffe" kam, war nicht
allein die Gefahr vorhanden, daß neben ihm eine abgesonderte Agitation'für
nichts als ein Parlament sich aufthat, sondern auch die größere Gefahr, daß
Oestreich und die Mittelstädten die Nationalpartei sprengten, wenn sie über ihr
erstes todtgebvrncs Project hinaus sich zu einer Reform auf der Basis "Direk¬
torium und Parlament" entschlossen. Diese Gefahr ist jetzt abgewendet. Der
Nationalverein hat die in ihm organisirte Partei aufs Neue derartig consolidirt,
daß sie die Lahmlegung Preußens noch eine Weile ertragen kann.

Daß die hiesige Versammlung nicht etwa einer erregten Stimmung nach-


Deutschland brauche: die Möglichkeit eines kraftvollen Auftretens nach außen
und gesicherte Freiheit im Innern. Ob sie formell noch zu Recht bestehe oder
nicht, das zu entscheiden unternehme man nicht, sondern überlasse es dem
staatsmännischen Gewissen jedes Einzelnen. Es genüge, daß sie ein recht¬
mäßig gewonnener Ausdruck der Bedürfnisse und des Willens der Nation sei.
Wenn sie ihre Mängel habe, große Mängel vielleicht, fo möge sie abgeändert
werden, sobald durch eine auf ihrer Grundlage einberufene deutsche Volksvei-
tretung das rechte Mittel dazu vorhanden sei.

Man wird diesen Bestimmungsgründen noch einiges Andere hinzufügen
können. Die Schwächen der Reichsverfassung sind jetzt so groß nicht mehr,
wie zur Zeit ihrer Entstehung, da die volkswirtschaftliche Reformagitation
seitdem das Capitel von den Grundrechten ins allgemeine Verständniß und
großentheils bereits selbst in die Gesetzgebung der einzelnen Länder eingeführt
hat. Für die demnächstige Entscheidung der jetzt offen gelassenen Frage des
Oberhaupts ist in Verbindung mit der ausdrücklichen Bezugnahme auf das alte
Programm gerade das Stillschweigen eine nicht geringe Bürgschaft, wenn man-
hinzuhält, daß weder hier in Koburg noch vorher in Weimar irgend ein Mensch
auch nur versuchte, der preußischen Hegemonie ein Wörtchen der Anerkennung
zu sichern. Hat doch die preußische Fortschrittspartei zu dem hier gefaßten Be¬
schlusse im Voraus zugestimmt, und somit theilweise ergänzt, was eben in
Norddeutschland bisher fehlte: Aufnahme der Reichsverfassung ins liberale Be¬
wußtsein. Dieser haben indessen auch das Nationalvereinsprogramm von 1860
und der erste deutsche Abgeordnetentag schon vorgearbeitet, indem sie die Reichs¬
verfassung als den „rechtlichen Ausdruck" der von der Nation geforderten
bundesstaatlichen Einheit anzogen. Zu dem Schritte, der darüber hinaus jetzt
gethan ist, drängte die Entwicklung, welche der Rcformkampf in Deutschland
neuerdings offenbar genommen hat. Die auswärtigen Wolken haben sich ver¬
zogen, aber im Innern des größten deutschen Staats ballen sich schwere Dunst¬
massen unheildrohend zusammen. Wo Schutz und Rettung suchen? Der Jn-
stinct der Menge sagt, in einem nationalen Parlament; und wer ihr daher ein
Parlament bietet, der wird sie haben, wenn er es halbwegs gescheidt anfängt.
Bevor der Nationalverein zu seinem jetzigen „kühnen Griffe" kam, war nicht
allein die Gefahr vorhanden, daß neben ihm eine abgesonderte Agitation'für
nichts als ein Parlament sich aufthat, sondern auch die größere Gefahr, daß
Oestreich und die Mittelstädten die Nationalpartei sprengten, wenn sie über ihr
erstes todtgebvrncs Project hinaus sich zu einer Reform auf der Basis „Direk¬
torium und Parlament" entschlossen. Diese Gefahr ist jetzt abgewendet. Der
Nationalverein hat die in ihm organisirte Partei aufs Neue derartig consolidirt,
daß sie die Lahmlegung Preußens noch eine Weile ertragen kann.

Daß die hiesige Versammlung nicht etwa einer erregten Stimmung nach-


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[0130] Deutschland brauche: die Möglichkeit eines kraftvollen Auftretens nach außen und gesicherte Freiheit im Innern. Ob sie formell noch zu Recht bestehe oder nicht, das zu entscheiden unternehme man nicht, sondern überlasse es dem staatsmännischen Gewissen jedes Einzelnen. Es genüge, daß sie ein recht¬ mäßig gewonnener Ausdruck der Bedürfnisse und des Willens der Nation sei. Wenn sie ihre Mängel habe, große Mängel vielleicht, fo möge sie abgeändert werden, sobald durch eine auf ihrer Grundlage einberufene deutsche Volksvei- tretung das rechte Mittel dazu vorhanden sei. Man wird diesen Bestimmungsgründen noch einiges Andere hinzufügen können. Die Schwächen der Reichsverfassung sind jetzt so groß nicht mehr, wie zur Zeit ihrer Entstehung, da die volkswirtschaftliche Reformagitation seitdem das Capitel von den Grundrechten ins allgemeine Verständniß und großentheils bereits selbst in die Gesetzgebung der einzelnen Länder eingeführt hat. Für die demnächstige Entscheidung der jetzt offen gelassenen Frage des Oberhaupts ist in Verbindung mit der ausdrücklichen Bezugnahme auf das alte Programm gerade das Stillschweigen eine nicht geringe Bürgschaft, wenn man- hinzuhält, daß weder hier in Koburg noch vorher in Weimar irgend ein Mensch auch nur versuchte, der preußischen Hegemonie ein Wörtchen der Anerkennung zu sichern. Hat doch die preußische Fortschrittspartei zu dem hier gefaßten Be¬ schlusse im Voraus zugestimmt, und somit theilweise ergänzt, was eben in Norddeutschland bisher fehlte: Aufnahme der Reichsverfassung ins liberale Be¬ wußtsein. Dieser haben indessen auch das Nationalvereinsprogramm von 1860 und der erste deutsche Abgeordnetentag schon vorgearbeitet, indem sie die Reichs¬ verfassung als den „rechtlichen Ausdruck" der von der Nation geforderten bundesstaatlichen Einheit anzogen. Zu dem Schritte, der darüber hinaus jetzt gethan ist, drängte die Entwicklung, welche der Rcformkampf in Deutschland neuerdings offenbar genommen hat. Die auswärtigen Wolken haben sich ver¬ zogen, aber im Innern des größten deutschen Staats ballen sich schwere Dunst¬ massen unheildrohend zusammen. Wo Schutz und Rettung suchen? Der Jn- stinct der Menge sagt, in einem nationalen Parlament; und wer ihr daher ein Parlament bietet, der wird sie haben, wenn er es halbwegs gescheidt anfängt. Bevor der Nationalverein zu seinem jetzigen „kühnen Griffe" kam, war nicht allein die Gefahr vorhanden, daß neben ihm eine abgesonderte Agitation'für nichts als ein Parlament sich aufthat, sondern auch die größere Gefahr, daß Oestreich und die Mittelstädten die Nationalpartei sprengten, wenn sie über ihr erstes todtgebvrncs Project hinaus sich zu einer Reform auf der Basis „Direk¬ torium und Parlament" entschlossen. Diese Gefahr ist jetzt abgewendet. Der Nationalverein hat die in ihm organisirte Partei aufs Neue derartig consolidirt, daß sie die Lahmlegung Preußens noch eine Weile ertragen kann. Daß die hiesige Versammlung nicht etwa einer erregten Stimmung nach-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/130>, abgerufen am 15.05.2024.