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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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suchte ich alle Localitäten des Gefängnisses, um mich des zum Entkommen ge¬
eignetsten Weges zu versichern, und unterhielt zu dem Ende eine Verbindung
mit einem alten hessischen Grenadier, der noch vom Dörnbergschen Aufstand
her gefangen saß und im Hause zu allerlei Dienstleistungen gebraucht wurde.
Mit größter Spannung verfolgte ich die verschiedenen Stadien der Verhand¬
lungen während des Waffenstillstandes, so weit ich das bei der Magerkeit der
, Berichte des westphälischen Moniteur vermochte, denn ich hatte mir fest vor¬
genommen, sobald feststünde, daß der Krieg wieder begonnen, die erste Gelegen¬
heit zur Flucht zu benutzen.

Als die hundert Kanonenschüsse in Kassel den Sieg von Dresden verkün¬
det, führte ich mein Wagstück aus. Noch dieselbe Nacht erstieg ich über die
Schultern meines Grenadiers die Mauer, welche unser Gefängniß von einem
Hause der Stadt trennte, kletterte über das mit scharfen Eisenspitzen beschlagne
Stocket, das die Mauer erhöhte, ließ mich auf der andern Seite, so weit meine
ganze Länge mit den Armen reichte, hinab und wagte den Sprung in die
dunkle Tiefe. Der Fall war nicht sanft, aber um so glücklicher, als ich zwei
geladene Pistolen in der Tasche trug. Aufspringend fühlte ich, daß alle Glieder
gesund, dann den Hut in die Augen gedrückt und rasch durch das offenstehende
Haus hinaus. Ich war auf der unbekannten Straße einer unbekannten Stadt,
aber die Welt stand offen, und vor Freude zitternd eilte ich weiter, der Rich¬
tung des Stadtthores nach, die ich vom Fenster meines Gefängnisses so gut
als möglich ausgekundschaftet hatte. Als ich des Thores ansichtig wurde,
mäßigte ich meine Schritte. Mit gelassener Miene, aber klopfendem Herzen ging
ich an der Thorwache vorbei, der letzten bedenklichen Stelle. Kein Mensch
nahm Notiz von mir, und so gelangte ich glücklich auf die große Heerstraße
nach Eisenach. Mein Unternehmen war gelungen, mein heißester Wunsch er¬
füllt, vor mir lag die Möglichkeit, an dem Kampfe gegen den Unterdrücker
Deutschlands theilzunehmen.

Zwar galt es noch einen weiten Weg. Ich wußte, daß der Kampf um
Dresden spielte, und daß ich, um die Meinigen zu erreichen, noch irgendwo
durch die feindliche Armee hindurch mußte. In letzterer Beziehung konnte ich
mich indeß auf meine Kenntniß militärischer Dinge verlassen. Zunächst hieß
es nur. aus dem Königreich Westphalen herauskommen, um der directen Ver¬
folgung von Kassel her zu entgehen. Mit langen Schritten eilte ich vorwärts.
Ich war bewaffnet, fürchtete also nichts. Nach einer Weile holte mich ein
Bauer ein, der mit seinem Wagen Holz nach der Stadt gefahren. Ich bat
ihn, mich eine Strecke mitzunehmen, und bot ein Trinkgeld, wenn er rasch
fahren wollte; ich müsse morgen bei Zeiten in Eisenach sein. Der Mann
war sehr bereit dazu und fuhr mich für acht gute Groschen zwei volle Meilen
in gutem Tempo. Als ich endlich sein Fuhrwerk verlassen, marschirte ich den


suchte ich alle Localitäten des Gefängnisses, um mich des zum Entkommen ge¬
eignetsten Weges zu versichern, und unterhielt zu dem Ende eine Verbindung
mit einem alten hessischen Grenadier, der noch vom Dörnbergschen Aufstand
her gefangen saß und im Hause zu allerlei Dienstleistungen gebraucht wurde.
Mit größter Spannung verfolgte ich die verschiedenen Stadien der Verhand¬
lungen während des Waffenstillstandes, so weit ich das bei der Magerkeit der
, Berichte des westphälischen Moniteur vermochte, denn ich hatte mir fest vor¬
genommen, sobald feststünde, daß der Krieg wieder begonnen, die erste Gelegen¬
heit zur Flucht zu benutzen.

Als die hundert Kanonenschüsse in Kassel den Sieg von Dresden verkün¬
det, führte ich mein Wagstück aus. Noch dieselbe Nacht erstieg ich über die
Schultern meines Grenadiers die Mauer, welche unser Gefängniß von einem
Hause der Stadt trennte, kletterte über das mit scharfen Eisenspitzen beschlagne
Stocket, das die Mauer erhöhte, ließ mich auf der andern Seite, so weit meine
ganze Länge mit den Armen reichte, hinab und wagte den Sprung in die
dunkle Tiefe. Der Fall war nicht sanft, aber um so glücklicher, als ich zwei
geladene Pistolen in der Tasche trug. Aufspringend fühlte ich, daß alle Glieder
gesund, dann den Hut in die Augen gedrückt und rasch durch das offenstehende
Haus hinaus. Ich war auf der unbekannten Straße einer unbekannten Stadt,
aber die Welt stand offen, und vor Freude zitternd eilte ich weiter, der Rich¬
tung des Stadtthores nach, die ich vom Fenster meines Gefängnisses so gut
als möglich ausgekundschaftet hatte. Als ich des Thores ansichtig wurde,
mäßigte ich meine Schritte. Mit gelassener Miene, aber klopfendem Herzen ging
ich an der Thorwache vorbei, der letzten bedenklichen Stelle. Kein Mensch
nahm Notiz von mir, und so gelangte ich glücklich auf die große Heerstraße
nach Eisenach. Mein Unternehmen war gelungen, mein heißester Wunsch er¬
füllt, vor mir lag die Möglichkeit, an dem Kampfe gegen den Unterdrücker
Deutschlands theilzunehmen.

Zwar galt es noch einen weiten Weg. Ich wußte, daß der Kampf um
Dresden spielte, und daß ich, um die Meinigen zu erreichen, noch irgendwo
durch die feindliche Armee hindurch mußte. In letzterer Beziehung konnte ich
mich indeß auf meine Kenntniß militärischer Dinge verlassen. Zunächst hieß
es nur. aus dem Königreich Westphalen herauskommen, um der directen Ver¬
folgung von Kassel her zu entgehen. Mit langen Schritten eilte ich vorwärts.
Ich war bewaffnet, fürchtete also nichts. Nach einer Weile holte mich ein
Bauer ein, der mit seinem Wagen Holz nach der Stadt gefahren. Ich bat
ihn, mich eine Strecke mitzunehmen, und bot ein Trinkgeld, wenn er rasch
fahren wollte; ich müsse morgen bei Zeiten in Eisenach sein. Der Mann
war sehr bereit dazu und fuhr mich für acht gute Groschen zwei volle Meilen
in gutem Tempo. Als ich endlich sein Fuhrwerk verlassen, marschirte ich den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/140>, abgerufen am 29.05.2024.