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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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So lange ich nichts von der großen Wendung wußte, welche die Dinge
draußen in der Welt genommen hatten, suchte und fand ich Zuflucht vor Lange¬
weile und trüben Betrachtungen in den ernsthaftesten Studien. Ich las ohne
Unterlaß Homer und Platon und vergaß so oft Wochen hindurch meine
schlimme Lage. Als aber im März und April Alles, was geschehen, nach und
nach auch uns bekannt wurde, indem die deutsche Gefängnißbehörde, theils
aus Mitleid, theils um sich mit den politischen Gefangnen für die Zukunft in
gutes Vernehmen zu setzen, selbst uns davon Nachricht gab, hörte allerdings
alle Nuhe des Gemüths auf, und die Sehnsucht nach Freiheit, um mitwirken
zu können im großen Kampf steigerte sich zu fieberhafter Rastlosigkeit.

Im April erwarteten wir täglich nach Frankreich abgeführt zu werden.
Inzwischen hatte alle Absonderung zwischen den Gefangenen aufgehört. Die
Aufseher und Wärter mußten gestatten, daß wir Tag und Nacht mit einander
verkehrten. Es gab da politische Gefangene, die schon Jahre lang unter dem¬
selben Dache lebten und sich jetzt erst kennen lernten. Man berathschlagte über
gemeinsame Maßregeln, und bald kam man überein, in der nächsten Nacht das
Gefängniß zu erbrechen und sich zu befreien, bald wieder meinte man warten
zu müssen bis auf den Versuch einer Abführung nach Frankreich. Dann end¬
lich hieß es. die Alliirten seien schon ganz in der Nähe und mit ihnen unsre
Freiheit. So vergingen Wochen im peinlichsten Wechsel der Gefühle, in
größter Aufregung, schmerzlichsten Harren. Als ehemaliger Offizier war ich
zum Führer der Verschwornen gewählt worden, als man wieder daran dachte,
sich gewaltsam zu befreien. Die eingeschüchterten Wächter hatten uns Pistolen
und große Messer verschaffen müssen. Alles war vorbereitet zum Ausbruch,
als eines Tages -- es war der 4. Mai -- dicht vor der Stadt Kanonenschüsse
ertönten. Natürlich höchste Spannung aller Nerven, Herzklopfen, Horchen nach
allen Seiten, aber leider bald daraus allgemeine Niedergeschlagenheit. Wir
hatten die Freunde, die Befreier erwartet, und siehe da, es waren die Kanonen
die den Sieg des Gegners bei Lützen verkündeten!

Jetzt sollten die gelockerten Bande der Gefangenschaft wieder straffer an¬
gezogen werden. Doch wollte das nicht recht gelingen. Wir drohten den Auf¬
sehern, bekannt zu machen, wie sehr sie in den letzten Wochen die gegen uns ge¬
botene Strenge vernachlässigt hatten, und so blieb es im Ganzen bei der bis¬
herigen milden Praxis. Meine Unruhe steigerte sich mit jedem Tage, wußte
ich doch nunmehr, daß der Schauplatz des Kampfes jetzt in Deutschland war.
Aber ich las zugleich die Zeitungen, die gleich nach der Schlacht bei Lützen
und noch mehr nach der Schlacht bei Bautzen von einem Congreß und von
Frieden sprachen, und indem ich daran glaubte und zu spät zu kommen fürchtete,
verschob ich die Flucht von Tage zu Tage. Es schien unverständig, ohne Aus¬
sicht aus teil Preis des Mitkämpfens das Aeußerste zu wagen. Indeß unter-


17*

So lange ich nichts von der großen Wendung wußte, welche die Dinge
draußen in der Welt genommen hatten, suchte und fand ich Zuflucht vor Lange¬
weile und trüben Betrachtungen in den ernsthaftesten Studien. Ich las ohne
Unterlaß Homer und Platon und vergaß so oft Wochen hindurch meine
schlimme Lage. Als aber im März und April Alles, was geschehen, nach und
nach auch uns bekannt wurde, indem die deutsche Gefängnißbehörde, theils
aus Mitleid, theils um sich mit den politischen Gefangnen für die Zukunft in
gutes Vernehmen zu setzen, selbst uns davon Nachricht gab, hörte allerdings
alle Nuhe des Gemüths auf, und die Sehnsucht nach Freiheit, um mitwirken
zu können im großen Kampf steigerte sich zu fieberhafter Rastlosigkeit.

Im April erwarteten wir täglich nach Frankreich abgeführt zu werden.
Inzwischen hatte alle Absonderung zwischen den Gefangenen aufgehört. Die
Aufseher und Wärter mußten gestatten, daß wir Tag und Nacht mit einander
verkehrten. Es gab da politische Gefangene, die schon Jahre lang unter dem¬
selben Dache lebten und sich jetzt erst kennen lernten. Man berathschlagte über
gemeinsame Maßregeln, und bald kam man überein, in der nächsten Nacht das
Gefängniß zu erbrechen und sich zu befreien, bald wieder meinte man warten
zu müssen bis auf den Versuch einer Abführung nach Frankreich. Dann end¬
lich hieß es. die Alliirten seien schon ganz in der Nähe und mit ihnen unsre
Freiheit. So vergingen Wochen im peinlichsten Wechsel der Gefühle, in
größter Aufregung, schmerzlichsten Harren. Als ehemaliger Offizier war ich
zum Führer der Verschwornen gewählt worden, als man wieder daran dachte,
sich gewaltsam zu befreien. Die eingeschüchterten Wächter hatten uns Pistolen
und große Messer verschaffen müssen. Alles war vorbereitet zum Ausbruch,
als eines Tages — es war der 4. Mai — dicht vor der Stadt Kanonenschüsse
ertönten. Natürlich höchste Spannung aller Nerven, Herzklopfen, Horchen nach
allen Seiten, aber leider bald daraus allgemeine Niedergeschlagenheit. Wir
hatten die Freunde, die Befreier erwartet, und siehe da, es waren die Kanonen
die den Sieg des Gegners bei Lützen verkündeten!

Jetzt sollten die gelockerten Bande der Gefangenschaft wieder straffer an¬
gezogen werden. Doch wollte das nicht recht gelingen. Wir drohten den Auf¬
sehern, bekannt zu machen, wie sehr sie in den letzten Wochen die gegen uns ge¬
botene Strenge vernachlässigt hatten, und so blieb es im Ganzen bei der bis¬
herigen milden Praxis. Meine Unruhe steigerte sich mit jedem Tage, wußte
ich doch nunmehr, daß der Schauplatz des Kampfes jetzt in Deutschland war.
Aber ich las zugleich die Zeitungen, die gleich nach der Schlacht bei Lützen
und noch mehr nach der Schlacht bei Bautzen von einem Congreß und von
Frieden sprachen, und indem ich daran glaubte und zu spät zu kommen fürchtete,
verschob ich die Flucht von Tage zu Tage. Es schien unverständig, ohne Aus¬
sicht aus teil Preis des Mitkämpfens das Aeußerste zu wagen. Indeß unter-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/139>, abgerufen am 08.06.2024.