Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

dessen Durchführung in einer nahen Zukunft sich hoffen ließ. Die Fluthen,
welche durch die Erregung des Jahres 1859 so hoch angeschwollen waren,
haben sich wieder verlaufen, an momentane durchgreifende Erfolge für die
nationale Reform ist nicht mehr zu denken, die spontane Bewegung des Volks
hat sich, obwohl sie von nachhaltiger Kraft sicher nichts verloren hat, doch mehr
der Arbeit im Einzelnen zugewandt, und eben dadurch hat für die Regierungen
die drängende Nothwendigkeit, Abhülfe zu treffen, sich ermäßigt. Oestreich ist
so weit erstarkt, um die deutsche Einigung mit Erfolg hindern zu können,
Preußen, Dank seinen gegenwärtigen Leitern, dahin gebracht, daß es auf die
Initiative in der deutschen Frage für jetzt verzichten muß. Was blieb unter
diesen Umständen der Nationalpartei übrig, "als sich zu sammeln?" -- und
dies eben ist die Bedeutung des Znrückgehens auf die Reichsverfassung.

Um sich zu rüsten gegenüber kommenden Ereignissen, den nationalen Ge¬
danken zu verbreiten und zu klären, um in die eigene Partei Einheit und Dis¬
ciplin zu bringen, war die Reichsverfassung in jedem Fall ein weit sichererer und
erfolgreicherer Standort als die bisherigen halben, unklaren Programme ge¬
wesen waren. Das Programm des Nationalvcreins insbesondere konnte dem
Vorwurf nicht entgehen, daß es ebenso viel verschwieg als es sagte, daß es ein
Kompromiß war, das Niemand recht befriedigte. Auch die Reichsverfassung ist
ein Compromiß, aber sie ist zugleich, wenn nicht heute noch Recht, so doch aus
einer rechtskräftigen'Quelle hervorgegangen. Sie besitzt die Autorität, die ihr
vermöge ihres Ursprungs zukommt, sie hat eine historische Bedeutung. Auch
sie ist ein Compromiß, aber doch hat in ihr der Gedanke des parlamentarischen
Bundesstaats seinen einfachsten, heute noch giltigen Ausdruck gefunden, und
auch in den Punkten, in welchen sie eine Entscheidung nicht getroffen und mehr
angedeutet als klar präcisirt hat, entspricht sie genau noch den heutigen un¬
fertigen Zuständen sowohl in Betreff der Oberhauptsfrage, die vorläufig factisch
suspendirt bleiben muß, als in Betreff des Verhältnisses zu Oestreich, das trotz
aller Veränderungen, die im Kaiserstaat inzwischen vorgegangen sind, heute
noch genau dasselbe ist wie vor dreizehn Jahren. Gleichwohl ist auch in diesen
beiden Fragen durch sie die Richtung klar vorgezeichnet, in welcher sich inner¬
halb der nationalen Partei die öffentliche Meinung weiter zu entwickeln und
zu befestigen hat. Denn nicht nur ist die Übertragung der Centralgewalt an
die Krone Preußen die einzige Möglichkeit ihrer Ausführung, sondern auch die
Stellung zu Oestreich ist wenigstens so weit präcisirt, daß dieses kein Hinder¬
niß für die bundesstaatliche Einigung Deutschlands sein darf. Endlich aber ist
die Reichsverfassung ein dem ganzen Volke sichtbares Zeichen, sie ist ein ver¬
ständliches, populäres Programm. Noch sind die Wurzeln, die sie im Vater¬
land geschlagen, nicht zerschnitten, mit ihr verknüpfen sich die Erinnerungen an
die erste große Erhebung des deutschen Volks, an das erste deutsche Parlament.


21 *

dessen Durchführung in einer nahen Zukunft sich hoffen ließ. Die Fluthen,
welche durch die Erregung des Jahres 1859 so hoch angeschwollen waren,
haben sich wieder verlaufen, an momentane durchgreifende Erfolge für die
nationale Reform ist nicht mehr zu denken, die spontane Bewegung des Volks
hat sich, obwohl sie von nachhaltiger Kraft sicher nichts verloren hat, doch mehr
der Arbeit im Einzelnen zugewandt, und eben dadurch hat für die Regierungen
die drängende Nothwendigkeit, Abhülfe zu treffen, sich ermäßigt. Oestreich ist
so weit erstarkt, um die deutsche Einigung mit Erfolg hindern zu können,
Preußen, Dank seinen gegenwärtigen Leitern, dahin gebracht, daß es auf die
Initiative in der deutschen Frage für jetzt verzichten muß. Was blieb unter
diesen Umständen der Nationalpartei übrig, „als sich zu sammeln?" — und
dies eben ist die Bedeutung des Znrückgehens auf die Reichsverfassung.

Um sich zu rüsten gegenüber kommenden Ereignissen, den nationalen Ge¬
danken zu verbreiten und zu klären, um in die eigene Partei Einheit und Dis¬
ciplin zu bringen, war die Reichsverfassung in jedem Fall ein weit sichererer und
erfolgreicherer Standort als die bisherigen halben, unklaren Programme ge¬
wesen waren. Das Programm des Nationalvcreins insbesondere konnte dem
Vorwurf nicht entgehen, daß es ebenso viel verschwieg als es sagte, daß es ein
Kompromiß war, das Niemand recht befriedigte. Auch die Reichsverfassung ist
ein Compromiß, aber sie ist zugleich, wenn nicht heute noch Recht, so doch aus
einer rechtskräftigen'Quelle hervorgegangen. Sie besitzt die Autorität, die ihr
vermöge ihres Ursprungs zukommt, sie hat eine historische Bedeutung. Auch
sie ist ein Compromiß, aber doch hat in ihr der Gedanke des parlamentarischen
Bundesstaats seinen einfachsten, heute noch giltigen Ausdruck gefunden, und
auch in den Punkten, in welchen sie eine Entscheidung nicht getroffen und mehr
angedeutet als klar präcisirt hat, entspricht sie genau noch den heutigen un¬
fertigen Zuständen sowohl in Betreff der Oberhauptsfrage, die vorläufig factisch
suspendirt bleiben muß, als in Betreff des Verhältnisses zu Oestreich, das trotz
aller Veränderungen, die im Kaiserstaat inzwischen vorgegangen sind, heute
noch genau dasselbe ist wie vor dreizehn Jahren. Gleichwohl ist auch in diesen
beiden Fragen durch sie die Richtung klar vorgezeichnet, in welcher sich inner¬
halb der nationalen Partei die öffentliche Meinung weiter zu entwickeln und
zu befestigen hat. Denn nicht nur ist die Übertragung der Centralgewalt an
die Krone Preußen die einzige Möglichkeit ihrer Ausführung, sondern auch die
Stellung zu Oestreich ist wenigstens so weit präcisirt, daß dieses kein Hinder¬
niß für die bundesstaatliche Einigung Deutschlands sein darf. Endlich aber ist
die Reichsverfassung ein dem ganzen Volke sichtbares Zeichen, sie ist ein ver¬
ständliches, populäres Programm. Noch sind die Wurzeln, die sie im Vater¬
land geschlagen, nicht zerschnitten, mit ihr verknüpfen sich die Erinnerungen an
die erste große Erhebung des deutschen Volks, an das erste deutsche Parlament.


21 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0171" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/355311"/>
          <p xml:id="ID_538" prev="#ID_537"> dessen Durchführung in einer nahen Zukunft sich hoffen ließ. Die Fluthen,<lb/>
welche durch die Erregung des Jahres 1859 so hoch angeschwollen waren,<lb/>
haben sich wieder verlaufen, an momentane durchgreifende Erfolge für die<lb/>
nationale Reform ist nicht mehr zu denken, die spontane Bewegung des Volks<lb/>
hat sich, obwohl sie von nachhaltiger Kraft sicher nichts verloren hat, doch mehr<lb/>
der Arbeit im Einzelnen zugewandt, und eben dadurch hat für die Regierungen<lb/>
die drängende Nothwendigkeit, Abhülfe zu treffen, sich ermäßigt. Oestreich ist<lb/>
so weit erstarkt, um die deutsche Einigung mit Erfolg hindern zu können,<lb/>
Preußen, Dank seinen gegenwärtigen Leitern, dahin gebracht, daß es auf die<lb/>
Initiative in der deutschen Frage für jetzt verzichten muß. Was blieb unter<lb/>
diesen Umständen der Nationalpartei übrig, &#x201E;als sich zu sammeln?" &#x2014; und<lb/>
dies eben ist die Bedeutung des Znrückgehens auf die Reichsverfassung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_539" next="#ID_540"> Um sich zu rüsten gegenüber kommenden Ereignissen, den nationalen Ge¬<lb/>
danken zu verbreiten und zu klären, um in die eigene Partei Einheit und Dis¬<lb/>
ciplin zu bringen, war die Reichsverfassung in jedem Fall ein weit sichererer und<lb/>
erfolgreicherer Standort als die bisherigen halben, unklaren Programme ge¬<lb/>
wesen waren. Das Programm des Nationalvcreins insbesondere konnte dem<lb/>
Vorwurf nicht entgehen, daß es ebenso viel verschwieg als es sagte, daß es ein<lb/>
Kompromiß war, das Niemand recht befriedigte. Auch die Reichsverfassung ist<lb/>
ein Compromiß, aber sie ist zugleich, wenn nicht heute noch Recht, so doch aus<lb/>
einer rechtskräftigen'Quelle hervorgegangen. Sie besitzt die Autorität, die ihr<lb/>
vermöge ihres Ursprungs zukommt, sie hat eine historische Bedeutung. Auch<lb/>
sie ist ein Compromiß, aber doch hat in ihr der Gedanke des parlamentarischen<lb/>
Bundesstaats seinen einfachsten, heute noch giltigen Ausdruck gefunden, und<lb/>
auch in den Punkten, in welchen sie eine Entscheidung nicht getroffen und mehr<lb/>
angedeutet als klar präcisirt hat, entspricht sie genau noch den heutigen un¬<lb/>
fertigen Zuständen sowohl in Betreff der Oberhauptsfrage, die vorläufig factisch<lb/>
suspendirt bleiben muß, als in Betreff des Verhältnisses zu Oestreich, das trotz<lb/>
aller Veränderungen, die im Kaiserstaat inzwischen vorgegangen sind, heute<lb/>
noch genau dasselbe ist wie vor dreizehn Jahren. Gleichwohl ist auch in diesen<lb/>
beiden Fragen durch sie die Richtung klar vorgezeichnet, in welcher sich inner¬<lb/>
halb der nationalen Partei die öffentliche Meinung weiter zu entwickeln und<lb/>
zu befestigen hat. Denn nicht nur ist die Übertragung der Centralgewalt an<lb/>
die Krone Preußen die einzige Möglichkeit ihrer Ausführung, sondern auch die<lb/>
Stellung zu Oestreich ist wenigstens so weit präcisirt, daß dieses kein Hinder¬<lb/>
niß für die bundesstaatliche Einigung Deutschlands sein darf. Endlich aber ist<lb/>
die Reichsverfassung ein dem ganzen Volke sichtbares Zeichen, sie ist ein ver¬<lb/>
ständliches, populäres Programm. Noch sind die Wurzeln, die sie im Vater¬<lb/>
land geschlagen, nicht zerschnitten, mit ihr verknüpfen sich die Erinnerungen an<lb/>
die erste große Erhebung des deutschen Volks, an das erste deutsche Parlament.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 21 *</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0171] dessen Durchführung in einer nahen Zukunft sich hoffen ließ. Die Fluthen, welche durch die Erregung des Jahres 1859 so hoch angeschwollen waren, haben sich wieder verlaufen, an momentane durchgreifende Erfolge für die nationale Reform ist nicht mehr zu denken, die spontane Bewegung des Volks hat sich, obwohl sie von nachhaltiger Kraft sicher nichts verloren hat, doch mehr der Arbeit im Einzelnen zugewandt, und eben dadurch hat für die Regierungen die drängende Nothwendigkeit, Abhülfe zu treffen, sich ermäßigt. Oestreich ist so weit erstarkt, um die deutsche Einigung mit Erfolg hindern zu können, Preußen, Dank seinen gegenwärtigen Leitern, dahin gebracht, daß es auf die Initiative in der deutschen Frage für jetzt verzichten muß. Was blieb unter diesen Umständen der Nationalpartei übrig, „als sich zu sammeln?" — und dies eben ist die Bedeutung des Znrückgehens auf die Reichsverfassung. Um sich zu rüsten gegenüber kommenden Ereignissen, den nationalen Ge¬ danken zu verbreiten und zu klären, um in die eigene Partei Einheit und Dis¬ ciplin zu bringen, war die Reichsverfassung in jedem Fall ein weit sichererer und erfolgreicherer Standort als die bisherigen halben, unklaren Programme ge¬ wesen waren. Das Programm des Nationalvcreins insbesondere konnte dem Vorwurf nicht entgehen, daß es ebenso viel verschwieg als es sagte, daß es ein Kompromiß war, das Niemand recht befriedigte. Auch die Reichsverfassung ist ein Compromiß, aber sie ist zugleich, wenn nicht heute noch Recht, so doch aus einer rechtskräftigen'Quelle hervorgegangen. Sie besitzt die Autorität, die ihr vermöge ihres Ursprungs zukommt, sie hat eine historische Bedeutung. Auch sie ist ein Compromiß, aber doch hat in ihr der Gedanke des parlamentarischen Bundesstaats seinen einfachsten, heute noch giltigen Ausdruck gefunden, und auch in den Punkten, in welchen sie eine Entscheidung nicht getroffen und mehr angedeutet als klar präcisirt hat, entspricht sie genau noch den heutigen un¬ fertigen Zuständen sowohl in Betreff der Oberhauptsfrage, die vorläufig factisch suspendirt bleiben muß, als in Betreff des Verhältnisses zu Oestreich, das trotz aller Veränderungen, die im Kaiserstaat inzwischen vorgegangen sind, heute noch genau dasselbe ist wie vor dreizehn Jahren. Gleichwohl ist auch in diesen beiden Fragen durch sie die Richtung klar vorgezeichnet, in welcher sich inner¬ halb der nationalen Partei die öffentliche Meinung weiter zu entwickeln und zu befestigen hat. Denn nicht nur ist die Übertragung der Centralgewalt an die Krone Preußen die einzige Möglichkeit ihrer Ausführung, sondern auch die Stellung zu Oestreich ist wenigstens so weit präcisirt, daß dieses kein Hinder¬ niß für die bundesstaatliche Einigung Deutschlands sein darf. Endlich aber ist die Reichsverfassung ein dem ganzen Volke sichtbares Zeichen, sie ist ein ver¬ ständliches, populäres Programm. Noch sind die Wurzeln, die sie im Vater¬ land geschlagen, nicht zerschnitten, mit ihr verknüpfen sich die Erinnerungen an die erste große Erhebung des deutschen Volks, an das erste deutsche Parlament. 21 *

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/171
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/171>, abgerufen am 30.05.2024.