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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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livrer enthüllen. Wer hat das Bild von Paul Delaroche "Maria in ihrem Hause
in der Nacht nach der Kreuzabnahme" gesehen, ohne im ersten Augenblicke-zu erstau¬
nen über die Neuheit Her Erfindung und im zweiten ihre Nothwendigkeit freu¬
dig anzuerkennen? Und wenn die Bauern von Ober-Ammergau ihr Passions¬
spiel aufführen, was ist es, das diese Tausende während langer Stunden in
athemloser andachtsvoller Stille fesselt, den blasirten Großstädter so gut wie
die schwäbische Bäuerin, die meilenweit gewallfahrtet zu der heiligen Handlung?
Es ist nicht blos die einzige Erscheinung, daß hier die künstlerische Kraft, die
in den Tiefen unsres Volkes schlummert, frei und freudig aus dem Verborgenen
hervortritt; es ist nicht blos die erhabene Weihe, welche der Glaube von Mil¬
lionen über den grandiosen Mythus von der Kreuzigung Christi ausgegossen
hat. Noch ein anderer, ein rein ästhetischer Grund gibt den anspruchslosen
Zeilen des alten Dorfschulmeisters eine so mächtig erschütternde Kraft. Jener eine
Tag des Todes Ehristi ist so überschwänglich reich an tragischen Momenten,
daß der Nachdichter nicht nöthig hat, zu jenen Abbreviaturen zu greifen, welche
die prägnante Natur des Dramas insgemein verlangt. Stunde für Stunde
vielmehr des schmerzenreichen Tages geht in jenem Passionsspiele an uns
vorüber; und also hat der Zuschauer den zweifachen Genuß der tragischen
Erschütterung und zugleich der vollen ungetrübten Naturwahrheit; denn auch
jener letzte Schein des Absichtlichen, der nach Goethes tiefem Worte jedem Kunst¬
werke anhaftet, verschwindet bei dieser glücklichen Fabel. Einen ähnlichen Mo¬
ment voll Unerschöpflicher Tragik bietet die Nibelungensage in dem Morgen nach
Siegfrieds Ermordung, und Hebbel hat es verstanden, die Gunst der Fabel
auszubeuten.' Kein Augenblick des Grausens wird uns erlassen von der Stunde
an, da Kriemhild erwacht und der Kämmerling über den todten Mann vor der
Thüre stolpert, bis zu jener schrecklichen Todtenprobe, wo der grimme Hagen
unerschüttert ruft:


Das rothe Blut! Ich hätt' es nie geglaubt,
Nun seh' ich es mit meinen eignen Augen.

In solcher Weise ist der fünfte Act von Siegfrieds Tod das Schönste geworden,
was Hebbel je geschrieben.

Wenn Hebbel in klarer und berechtigter Absicht das Maßlose, das Recken¬
haste seiner Helden in den gewaltigsten Umrissen gezeichnet hat, so war sein
Plan doch keineswegs, uns durch das Fremdartige dieser Erscheinungen lediglich
in Erstaunen zu setzen. Nein, wir sollen empfinden, dies ist das Geschlecht der
Heiden, der Gewissenlosen, das einer neuen reineren Menschheit die Stätte
räumen soll. Darum hat er jene Spuren des Christenthums, welche in das
Nibelungenlied hineinreichen, weiter verfolgt und den Heiden Hagen in grimmer
Feindschaft der Kirche gegenübergestellt. Vergeblich fällt der christliche Kaplan
der maßlosen Leidenschaft dieser heidnischen Gemüther in den Arm, und von


livrer enthüllen. Wer hat das Bild von Paul Delaroche „Maria in ihrem Hause
in der Nacht nach der Kreuzabnahme" gesehen, ohne im ersten Augenblicke-zu erstau¬
nen über die Neuheit Her Erfindung und im zweiten ihre Nothwendigkeit freu¬
dig anzuerkennen? Und wenn die Bauern von Ober-Ammergau ihr Passions¬
spiel aufführen, was ist es, das diese Tausende während langer Stunden in
athemloser andachtsvoller Stille fesselt, den blasirten Großstädter so gut wie
die schwäbische Bäuerin, die meilenweit gewallfahrtet zu der heiligen Handlung?
Es ist nicht blos die einzige Erscheinung, daß hier die künstlerische Kraft, die
in den Tiefen unsres Volkes schlummert, frei und freudig aus dem Verborgenen
hervortritt; es ist nicht blos die erhabene Weihe, welche der Glaube von Mil¬
lionen über den grandiosen Mythus von der Kreuzigung Christi ausgegossen
hat. Noch ein anderer, ein rein ästhetischer Grund gibt den anspruchslosen
Zeilen des alten Dorfschulmeisters eine so mächtig erschütternde Kraft. Jener eine
Tag des Todes Ehristi ist so überschwänglich reich an tragischen Momenten,
daß der Nachdichter nicht nöthig hat, zu jenen Abbreviaturen zu greifen, welche
die prägnante Natur des Dramas insgemein verlangt. Stunde für Stunde
vielmehr des schmerzenreichen Tages geht in jenem Passionsspiele an uns
vorüber; und also hat der Zuschauer den zweifachen Genuß der tragischen
Erschütterung und zugleich der vollen ungetrübten Naturwahrheit; denn auch
jener letzte Schein des Absichtlichen, der nach Goethes tiefem Worte jedem Kunst¬
werke anhaftet, verschwindet bei dieser glücklichen Fabel. Einen ähnlichen Mo¬
ment voll Unerschöpflicher Tragik bietet die Nibelungensage in dem Morgen nach
Siegfrieds Ermordung, und Hebbel hat es verstanden, die Gunst der Fabel
auszubeuten.' Kein Augenblick des Grausens wird uns erlassen von der Stunde
an, da Kriemhild erwacht und der Kämmerling über den todten Mann vor der
Thüre stolpert, bis zu jener schrecklichen Todtenprobe, wo der grimme Hagen
unerschüttert ruft:


Das rothe Blut! Ich hätt' es nie geglaubt,
Nun seh' ich es mit meinen eignen Augen.

In solcher Weise ist der fünfte Act von Siegfrieds Tod das Schönste geworden,
was Hebbel je geschrieben.

Wenn Hebbel in klarer und berechtigter Absicht das Maßlose, das Recken¬
haste seiner Helden in den gewaltigsten Umrissen gezeichnet hat, so war sein
Plan doch keineswegs, uns durch das Fremdartige dieser Erscheinungen lediglich
in Erstaunen zu setzen. Nein, wir sollen empfinden, dies ist das Geschlecht der
Heiden, der Gewissenlosen, das einer neuen reineren Menschheit die Stätte
räumen soll. Darum hat er jene Spuren des Christenthums, welche in das
Nibelungenlied hineinreichen, weiter verfolgt und den Heiden Hagen in grimmer
Feindschaft der Kirche gegenübergestellt. Vergeblich fällt der christliche Kaplan
der maßlosen Leidenschaft dieser heidnischen Gemüther in den Arm, und von


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[0184] livrer enthüllen. Wer hat das Bild von Paul Delaroche „Maria in ihrem Hause in der Nacht nach der Kreuzabnahme" gesehen, ohne im ersten Augenblicke-zu erstau¬ nen über die Neuheit Her Erfindung und im zweiten ihre Nothwendigkeit freu¬ dig anzuerkennen? Und wenn die Bauern von Ober-Ammergau ihr Passions¬ spiel aufführen, was ist es, das diese Tausende während langer Stunden in athemloser andachtsvoller Stille fesselt, den blasirten Großstädter so gut wie die schwäbische Bäuerin, die meilenweit gewallfahrtet zu der heiligen Handlung? Es ist nicht blos die einzige Erscheinung, daß hier die künstlerische Kraft, die in den Tiefen unsres Volkes schlummert, frei und freudig aus dem Verborgenen hervortritt; es ist nicht blos die erhabene Weihe, welche der Glaube von Mil¬ lionen über den grandiosen Mythus von der Kreuzigung Christi ausgegossen hat. Noch ein anderer, ein rein ästhetischer Grund gibt den anspruchslosen Zeilen des alten Dorfschulmeisters eine so mächtig erschütternde Kraft. Jener eine Tag des Todes Ehristi ist so überschwänglich reich an tragischen Momenten, daß der Nachdichter nicht nöthig hat, zu jenen Abbreviaturen zu greifen, welche die prägnante Natur des Dramas insgemein verlangt. Stunde für Stunde vielmehr des schmerzenreichen Tages geht in jenem Passionsspiele an uns vorüber; und also hat der Zuschauer den zweifachen Genuß der tragischen Erschütterung und zugleich der vollen ungetrübten Naturwahrheit; denn auch jener letzte Schein des Absichtlichen, der nach Goethes tiefem Worte jedem Kunst¬ werke anhaftet, verschwindet bei dieser glücklichen Fabel. Einen ähnlichen Mo¬ ment voll Unerschöpflicher Tragik bietet die Nibelungensage in dem Morgen nach Siegfrieds Ermordung, und Hebbel hat es verstanden, die Gunst der Fabel auszubeuten.' Kein Augenblick des Grausens wird uns erlassen von der Stunde an, da Kriemhild erwacht und der Kämmerling über den todten Mann vor der Thüre stolpert, bis zu jener schrecklichen Todtenprobe, wo der grimme Hagen unerschüttert ruft: Das rothe Blut! Ich hätt' es nie geglaubt, Nun seh' ich es mit meinen eignen Augen. In solcher Weise ist der fünfte Act von Siegfrieds Tod das Schönste geworden, was Hebbel je geschrieben. Wenn Hebbel in klarer und berechtigter Absicht das Maßlose, das Recken¬ haste seiner Helden in den gewaltigsten Umrissen gezeichnet hat, so war sein Plan doch keineswegs, uns durch das Fremdartige dieser Erscheinungen lediglich in Erstaunen zu setzen. Nein, wir sollen empfinden, dies ist das Geschlecht der Heiden, der Gewissenlosen, das einer neuen reineren Menschheit die Stätte räumen soll. Darum hat er jene Spuren des Christenthums, welche in das Nibelungenlied hineinreichen, weiter verfolgt und den Heiden Hagen in grimmer Feindschaft der Kirche gegenübergestellt. Vergeblich fällt der christliche Kaplan der maßlosen Leidenschaft dieser heidnischen Gemüther in den Arm, und von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/184>, abgerufen am 28.05.2024.