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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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Mx, uns rühmen. Doch glücklicherweise leben die Völker nach einem höheren
Gesetze als nach dem des NichtWiderspruchs. Trotz ihrer materialistischen
Sittenlehre ist die Sittlichkeit der englischen Nation eine sehr reine geblieben,
weil ein gesunder praktischer Sinn, ein unbeugsames Rechtsgefühl und, vor
Allem, die unvergleichliche Schule der politischen Freiheit und Politischen Pflicht¬
erfüllung sie vor den letzten Ergebnissen ihrer Moralbegriffe bewahrt hat. Den
Schlüssel zu diesen Widersprüchen gewährt die eigenthümliche Entstehungsweise
der Reformation in England. Das Puritanerthum hatte in gewaltiger Geistes¬
arbeit den durch die politische Gewalt dem Volke aufgedrungenen Protestantis¬
mus in ein geistiges Eigenthum der Nation verwandelt; aber nimmermehr
konnte diese strenge weltverachtendc Richtung die ganze Seele eines lebensfroher
und lebensstarken Volkes ausfüllen. Der Widerstand des altenglischen Welt¬
sinnes gegen die puritanische Härte geht in den mannigfachsten Gestalten durch
die englische Literatur, von Shakespeare an bis zu den Tagen, da Smollet
und Fielding lachenden Mundes ihren ernsten Kampf führten wider Richardsons
zimperliche Ehrbarkeit. Dieser Dualismus hat in England darin vorläufig
eine oberflächliche Ausgleichung gefunden, daß die Mehrheit der Nation im
praktischen Wirken einer ganz weltlichen Nützlichkeitsmoral huldigt, aber, weil
sie die Unsicherheit dieses Leitsterns im Stillen empfindet, um so zäher fest¬
hält an dem Buchstaben der Dogmatik und an gewissen conventionellen Sitten¬
begriffen. Nicht ohne schwere Schuld, natürlich, konnte Byron sich absondern
von dieser Gesittung seines Volks, doch wollen wir seine "Zerrissenheit" be¬
greifen, so müssen wir vorerst den Dualismus in der Moral seiner Nation ver¬
stehen.

Sehen wir zunächst, in welcher Lage Byron seine heimische Literatur vor¬
fand. Nichts schiefer als Macaulays Behauptung, Byron habe rathlos umher¬
geschwankt zwischen zwei feindlichen Dichterschulen und sei endlich wider sein
ästhetisches Gewissen durch sein krankhaftes Bedürfniß nach dem Beifall der
Zeitgenossen in die neuere jener beiden Schulen getrieben worden. Wir sehen
vielmehr in Byron die außerordentliche Erscheinung eines Dichters, der an drei
aus einander folgenden Richtungen der Literatur wesentlichen Antheil nimmt
und dennoch ein ganz selbständiger Künstler bleibt. Seine ästhetische Theorie
hatte sich an dem "correcten" Pope gebildet, seine Phantasie war erfüllt von
den Idealen jener Dichtung, die man die englische Romantik nennen mag, und
er selber schuf endlich eine neue Richtung, die über beide Vorgänger weit
hinausging; er brach die Bahn der neuesten Epoche der europäischen Literatur,
indem er das Element der schrankenlos übermüthigen Subjectivität in die
Poesie einführte. Die Erscheinung eines solchen Dichters muß eine unharmo¬
nische sein, doch es ist lohnend, ihr Werden zu verstehen.

Gleich all seinen AltersgenosscnqHvar ihm in der Schule die Dichtung


Mx, uns rühmen. Doch glücklicherweise leben die Völker nach einem höheren
Gesetze als nach dem des NichtWiderspruchs. Trotz ihrer materialistischen
Sittenlehre ist die Sittlichkeit der englischen Nation eine sehr reine geblieben,
weil ein gesunder praktischer Sinn, ein unbeugsames Rechtsgefühl und, vor
Allem, die unvergleichliche Schule der politischen Freiheit und Politischen Pflicht¬
erfüllung sie vor den letzten Ergebnissen ihrer Moralbegriffe bewahrt hat. Den
Schlüssel zu diesen Widersprüchen gewährt die eigenthümliche Entstehungsweise
der Reformation in England. Das Puritanerthum hatte in gewaltiger Geistes¬
arbeit den durch die politische Gewalt dem Volke aufgedrungenen Protestantis¬
mus in ein geistiges Eigenthum der Nation verwandelt; aber nimmermehr
konnte diese strenge weltverachtendc Richtung die ganze Seele eines lebensfroher
und lebensstarken Volkes ausfüllen. Der Widerstand des altenglischen Welt¬
sinnes gegen die puritanische Härte geht in den mannigfachsten Gestalten durch
die englische Literatur, von Shakespeare an bis zu den Tagen, da Smollet
und Fielding lachenden Mundes ihren ernsten Kampf führten wider Richardsons
zimperliche Ehrbarkeit. Dieser Dualismus hat in England darin vorläufig
eine oberflächliche Ausgleichung gefunden, daß die Mehrheit der Nation im
praktischen Wirken einer ganz weltlichen Nützlichkeitsmoral huldigt, aber, weil
sie die Unsicherheit dieses Leitsterns im Stillen empfindet, um so zäher fest¬
hält an dem Buchstaben der Dogmatik und an gewissen conventionellen Sitten¬
begriffen. Nicht ohne schwere Schuld, natürlich, konnte Byron sich absondern
von dieser Gesittung seines Volks, doch wollen wir seine „Zerrissenheit" be¬
greifen, so müssen wir vorerst den Dualismus in der Moral seiner Nation ver¬
stehen.

Sehen wir zunächst, in welcher Lage Byron seine heimische Literatur vor¬
fand. Nichts schiefer als Macaulays Behauptung, Byron habe rathlos umher¬
geschwankt zwischen zwei feindlichen Dichterschulen und sei endlich wider sein
ästhetisches Gewissen durch sein krankhaftes Bedürfniß nach dem Beifall der
Zeitgenossen in die neuere jener beiden Schulen getrieben worden. Wir sehen
vielmehr in Byron die außerordentliche Erscheinung eines Dichters, der an drei
aus einander folgenden Richtungen der Literatur wesentlichen Antheil nimmt
und dennoch ein ganz selbständiger Künstler bleibt. Seine ästhetische Theorie
hatte sich an dem „correcten" Pope gebildet, seine Phantasie war erfüllt von
den Idealen jener Dichtung, die man die englische Romantik nennen mag, und
er selber schuf endlich eine neue Richtung, die über beide Vorgänger weit
hinausging; er brach die Bahn der neuesten Epoche der europäischen Literatur,
indem er das Element der schrankenlos übermüthigen Subjectivität in die
Poesie einführte. Die Erscheinung eines solchen Dichters muß eine unharmo¬
nische sein, doch es ist lohnend, ihr Werden zu verstehen.

Gleich all seinen AltersgenosscnqHvar ihm in der Schule die Dichtung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/12>, abgerufen am 15.05.2024.