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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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Völker die allerschwierigste und undankbarste. Die in Deutschland landläufigen
Urtheile über den sittlichen Werth fremder Nationen zeigen leider nur allzu oft
jene sonderbare Mischung von Demuth und Dünkel, welche dem Charakter vo'
litisch machtloser Völker eigenthümlich ist. Jeder Narr unter uns meint sich be¬
rechtigt, geläufig und zuversichtlich den Franzosen das Gemüth, den Italienern
die Wahrhaftigkeit kurzweg abzusprechen: -- bis plötzlich eine große Bewegung,
wie die jüngste italienische Revolution, uns beschämend belehrt, daß ein Volk
einen von dem unseren grundverschiedenen Sittencodex besitzen und dennoch
einer hohen sittlichen Bildung sich erfreuen kann. Keine Nation der Welt, de¬
ren Charakter nicht häßliche Widersprüche aufwiese, welche, von dem Fremden
mit seinem Maße gemessen, zu schonungsloser Verdammung führen müßten.
Wie denken wir selber zu bestehen, wollte ein Fremder sein Urtheil über die
deutsche Sittlichkeit auf die leider unzweifelhafte Thatsache gründen, daß ein
frivoles Spielen mit dem politischen Eide, ein feiges Verläugnen der eignen
Ueberzeugung in Deutschland den Ehrenmann noch keineswegs nothwendig des
guten Rufes beraubt? Das sind traurige Folgen einer Zeit öffentlicher Kämpfe
und noch unvollendeter politischer Bildung, wird man einwenden. Sehr wahr;
aber gleiche und bessere Entschuldigungen hat der Engländer, zur Hand, wenn
wir von englischer Heuchelei und Prüderie reden, der Italiener, wenn wir das
Schlagwort von welscher Arglist ausspielen. Bedeutende Menschen lassen wir be¬
scheiden gewähren, wenn sie ihr Recht bewiesen haben, ihren eigenen Weg zu gehn,
und nur Kinder fragen: wer ist der Größere? Ueber die großen Culturvölker
aber, deren Dasein schon das Recht des Daseins ist, sitzen wir zu Gericht,
messen ihnen Lob und Tadel zu, statt ihren Charakter als ein Gegebenes hin¬
zunehmen und in seiner Nothwendigkeit zu verstehen. Solches Verständniß
wird gemeinhin finden, daß die sogenannten Nationaltugenden und National¬
fehler nur verschiedene Seiten eines und desselben Charakterzuges sind. Wir
sind also weit davon entfernt, einzustimmen in den üblichen selbstgefälligen Ta¬
del der englischen "Heuchelei", wenn wir einfach aussprechen, was uns Deutsche
an dem englischen Wesen am meisten befremdet: daß nämlich die religiösen und
die sittlichen Begriffe in England sich nicht gleichmäßig entwickelt haben. Wir
finden dort eine nahezu jüdische Starrheit des Festhaltens an der dogmatischen
Ueberlieferung und daneben eine volksthümliche, längst iir der kühnen prakti¬
schen Eigensucht der Nation großartig verkörperte Sittenlehre, die zwar seit
Bacon und Locke bis zu den schottischen Philosophen ihren wissenschaftlichen
Ausdruck mannigfach geändert, aber im Grunde jederzeit alle moralischen Dinge
an dem Maßstabe des Nutzens gemessen hat. Es läßt sich kein schärferer
Gegensatz denken zu der deutschen Weise, zu uns, die wir in allen moralischen
Fragen bewußt oder unbewußt der kantschen Pflichtenlehre folgen und auf dem
Gebiete des Glaubens einer schrankenlosen Selbständigkeit, der 6ermim niueis-


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Völker die allerschwierigste und undankbarste. Die in Deutschland landläufigen
Urtheile über den sittlichen Werth fremder Nationen zeigen leider nur allzu oft
jene sonderbare Mischung von Demuth und Dünkel, welche dem Charakter vo'
litisch machtloser Völker eigenthümlich ist. Jeder Narr unter uns meint sich be¬
rechtigt, geläufig und zuversichtlich den Franzosen das Gemüth, den Italienern
die Wahrhaftigkeit kurzweg abzusprechen: — bis plötzlich eine große Bewegung,
wie die jüngste italienische Revolution, uns beschämend belehrt, daß ein Volk
einen von dem unseren grundverschiedenen Sittencodex besitzen und dennoch
einer hohen sittlichen Bildung sich erfreuen kann. Keine Nation der Welt, de¬
ren Charakter nicht häßliche Widersprüche aufwiese, welche, von dem Fremden
mit seinem Maße gemessen, zu schonungsloser Verdammung führen müßten.
Wie denken wir selber zu bestehen, wollte ein Fremder sein Urtheil über die
deutsche Sittlichkeit auf die leider unzweifelhafte Thatsache gründen, daß ein
frivoles Spielen mit dem politischen Eide, ein feiges Verläugnen der eignen
Ueberzeugung in Deutschland den Ehrenmann noch keineswegs nothwendig des
guten Rufes beraubt? Das sind traurige Folgen einer Zeit öffentlicher Kämpfe
und noch unvollendeter politischer Bildung, wird man einwenden. Sehr wahr;
aber gleiche und bessere Entschuldigungen hat der Engländer, zur Hand, wenn
wir von englischer Heuchelei und Prüderie reden, der Italiener, wenn wir das
Schlagwort von welscher Arglist ausspielen. Bedeutende Menschen lassen wir be¬
scheiden gewähren, wenn sie ihr Recht bewiesen haben, ihren eigenen Weg zu gehn,
und nur Kinder fragen: wer ist der Größere? Ueber die großen Culturvölker
aber, deren Dasein schon das Recht des Daseins ist, sitzen wir zu Gericht,
messen ihnen Lob und Tadel zu, statt ihren Charakter als ein Gegebenes hin¬
zunehmen und in seiner Nothwendigkeit zu verstehen. Solches Verständniß
wird gemeinhin finden, daß die sogenannten Nationaltugenden und National¬
fehler nur verschiedene Seiten eines und desselben Charakterzuges sind. Wir
sind also weit davon entfernt, einzustimmen in den üblichen selbstgefälligen Ta¬
del der englischen „Heuchelei", wenn wir einfach aussprechen, was uns Deutsche
an dem englischen Wesen am meisten befremdet: daß nämlich die religiösen und
die sittlichen Begriffe in England sich nicht gleichmäßig entwickelt haben. Wir
finden dort eine nahezu jüdische Starrheit des Festhaltens an der dogmatischen
Ueberlieferung und daneben eine volksthümliche, längst iir der kühnen prakti¬
schen Eigensucht der Nation großartig verkörperte Sittenlehre, die zwar seit
Bacon und Locke bis zu den schottischen Philosophen ihren wissenschaftlichen
Ausdruck mannigfach geändert, aber im Grunde jederzeit alle moralischen Dinge
an dem Maßstabe des Nutzens gemessen hat. Es läßt sich kein schärferer
Gegensatz denken zu der deutschen Weise, zu uns, die wir in allen moralischen
Fragen bewußt oder unbewußt der kantschen Pflichtenlehre folgen und auf dem
Gebiete des Glaubens einer schrankenlosen Selbständigkeit, der 6ermim niueis-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/11>, abgerufen am 15.05.2024.