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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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fallen über den Frieden Europas zu disponiren, vor Allem aber, um Nußland
völlig abhängig zu machen. Um dies Ziel zu erreichen, bedarf er in der gegen¬
wärtigen Krisis nothwendig des Beistandes Oestreichs, aus zwei Gründen, ein¬
mal zur Verstärkung des auf Rußland auszuübenden Druckes und sodann, um
der polnischen Bewegung von vornherein gewisse Grenzen vorzuschreiben, die
sie nicht überschreiten darf, ohne sich mit den vermittelnden Mächten in Wider¬
spruch zu setzen und diesen eine Ursache oder einen Vorwand zu bieten, ihre
Hand ganz^von Polen abzuziehen. Die Mitwirkung Oestreichs gewährt dem
Kaiser der Franzosen nun diese Vortheile in ausreichendem Maße; sie seht ihn
ferner, was bei seiner zweideutigen Stellung zu allen revolutionären Parteien
Europas, so wie bei der polenfreundlichen Stimmung Frankreichs von der
größten Bedeutung ist, in die sehr erwünschte Lage, die Halbheit seiner An¬
forderungen von sich abzuwälzen und auf Oestreich zu schieben. Er kann von
einem Journal heute die kriegerischeste Sprache führen lassen, und es morgen
durch das andere dementiren. Er kann heute England wegen seiner schwanken¬
den Haltung angreifen lassen, morgen die versöhnlichste Sprache führen; denn
die Rücksicht auf Oestreich zwingt ihn zur Mäßigung.

Die äußerste Zurückhaltung wird dem wiener Cabinet aber nicht blos des¬
halb auferlegt, weil seine Wünsche für Polen auf ein sehr bescheidenes Maß
beschränkt sind, auf ein so bescheidenes Maß, daß es Frankreichs hochherzigen
und völkerbeglückenden Wünschen einen Zügel anlegt, sondern vielleicht mehr
noch durch die Besorgnis), daß es Frankreich plötzlich gefallen könnte, seine
Forderungen an Nußland noch unter das von Oestreich beliebte Maß herabzu¬
stimmen. Frankreich, indem es für jede Verlegenheit ein Auskunftsmittel hat,
steht nach allen Seiten gedeckt und darum frei in seinen Entschlüssen da. Oest¬
reich wird durch jeden Schritt, den es gegen Rußland thut (und daß die öst¬
reichischen Staatsmänner dies sehr wohl einsehen, wird durch ihre überaus
große Zurückhaltung bewiesen) mehr und mehr engagirt und folglich Rußland
gegenüber comproimttirt, und zwar ohne in den Verhältnissen eine Bürgschaft
zu finden, daß seine Bundesgenossen im entscheidenden Augenblick ihm treu zur
Seite stehen werden. Wir haben schon vor einiger Zeit in diesen Blättern auf
die Möglichkeit hingewiesen, daß die polnische Frage allmälig in die orienta¬
lische Frage umschlagen könnte' gegenwärtig regt sich auch in Oestreich selbst
die Besorgniß vor einer solchen Wendung der Dinge. Ein so rascher Wech¬
sel der Stellungen, wie ihn ängstliche Gemüther in Oestreich zu befürchten
scheinen, ist- allerdings und zwar aus mehr als einem Grunde schwerlich zu
erwarten. Einmal läßt sich eine orientalische Krisis nicht ohne Weiteres herbei¬
zaubern, sodann aber hat Napoleon in Allem, was er in der polnischen An¬
gelegenheit thut, die zarteste Rücksicht zu nehmen auf die Stimmung der Fran¬
zosen. Nun glauben wir zwar, daß diese gegenwärtig nicht sehr kriegerisch ist,


fallen über den Frieden Europas zu disponiren, vor Allem aber, um Nußland
völlig abhängig zu machen. Um dies Ziel zu erreichen, bedarf er in der gegen¬
wärtigen Krisis nothwendig des Beistandes Oestreichs, aus zwei Gründen, ein¬
mal zur Verstärkung des auf Rußland auszuübenden Druckes und sodann, um
der polnischen Bewegung von vornherein gewisse Grenzen vorzuschreiben, die
sie nicht überschreiten darf, ohne sich mit den vermittelnden Mächten in Wider¬
spruch zu setzen und diesen eine Ursache oder einen Vorwand zu bieten, ihre
Hand ganz^von Polen abzuziehen. Die Mitwirkung Oestreichs gewährt dem
Kaiser der Franzosen nun diese Vortheile in ausreichendem Maße; sie seht ihn
ferner, was bei seiner zweideutigen Stellung zu allen revolutionären Parteien
Europas, so wie bei der polenfreundlichen Stimmung Frankreichs von der
größten Bedeutung ist, in die sehr erwünschte Lage, die Halbheit seiner An¬
forderungen von sich abzuwälzen und auf Oestreich zu schieben. Er kann von
einem Journal heute die kriegerischeste Sprache führen lassen, und es morgen
durch das andere dementiren. Er kann heute England wegen seiner schwanken¬
den Haltung angreifen lassen, morgen die versöhnlichste Sprache führen; denn
die Rücksicht auf Oestreich zwingt ihn zur Mäßigung.

Die äußerste Zurückhaltung wird dem wiener Cabinet aber nicht blos des¬
halb auferlegt, weil seine Wünsche für Polen auf ein sehr bescheidenes Maß
beschränkt sind, auf ein so bescheidenes Maß, daß es Frankreichs hochherzigen
und völkerbeglückenden Wünschen einen Zügel anlegt, sondern vielleicht mehr
noch durch die Besorgnis), daß es Frankreich plötzlich gefallen könnte, seine
Forderungen an Nußland noch unter das von Oestreich beliebte Maß herabzu¬
stimmen. Frankreich, indem es für jede Verlegenheit ein Auskunftsmittel hat,
steht nach allen Seiten gedeckt und darum frei in seinen Entschlüssen da. Oest¬
reich wird durch jeden Schritt, den es gegen Rußland thut (und daß die öst¬
reichischen Staatsmänner dies sehr wohl einsehen, wird durch ihre überaus
große Zurückhaltung bewiesen) mehr und mehr engagirt und folglich Rußland
gegenüber comproimttirt, und zwar ohne in den Verhältnissen eine Bürgschaft
zu finden, daß seine Bundesgenossen im entscheidenden Augenblick ihm treu zur
Seite stehen werden. Wir haben schon vor einiger Zeit in diesen Blättern auf
die Möglichkeit hingewiesen, daß die polnische Frage allmälig in die orienta¬
lische Frage umschlagen könnte' gegenwärtig regt sich auch in Oestreich selbst
die Besorgniß vor einer solchen Wendung der Dinge. Ein so rascher Wech¬
sel der Stellungen, wie ihn ängstliche Gemüther in Oestreich zu befürchten
scheinen, ist- allerdings und zwar aus mehr als einem Grunde schwerlich zu
erwarten. Einmal läßt sich eine orientalische Krisis nicht ohne Weiteres herbei¬
zaubern, sodann aber hat Napoleon in Allem, was er in der polnischen An¬
gelegenheit thut, die zarteste Rücksicht zu nehmen auf die Stimmung der Fran¬
zosen. Nun glauben wir zwar, daß diese gegenwärtig nicht sehr kriegerisch ist,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/136>, abgerufen am 31.05.2024.