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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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leuchtend ist aber, daß es derselben, und zwar durch eine Annäherung an
Rußland entgehen kann. Napoleon wird diese Wendung um so bereitwillige
vollziehen, als sie nicht etwa ein kümmerlicher Ausweg aus einer dringenden
Verlegenheit ist, sondern im Gegentheil Frankreich in eine so überaus günstige
Lage verseht, daß ohne Zweifel, wennauch nicht die Gewißheit, doch die Mög¬
lichkeit dieser Wendung der Dinge vom Beginn des Conflictes an vom Kaiser
ins Auge gefaßt ist.

Wir wiederholen, daß wir nicht an eine augenblickliche Umgestaltung der
Situation denken, die geradezu eine politische Monstrosität wäre, sondern an eine
allmälige Annäherung Rußlands und Frankreichs, die auf den aller Wahr¬
scheinlichkeit nach bevorstehenden Konferenzen die beste Gelegenheit haben wird,
sich zu entwickeln. Die gegenwärtige Gruppirung der Mächte ist eine durchaus
provisorische: eine definitive Gestaltung des europäischen Alliancesystcms wird
erst aus den gemeinsamen Berathungen hervorgehen.

Wie man unter diesen Umständen von einer vermittelnden, dominirenden
Stellung Oestreichs in der polnischen Frage reden kann, ist schwer begreiflich.
Oestreich mag sich zur Vertheidigung seiner Politik auf die Fehler der preußi¬
schen Politik berufen; diese Fehler machen die östreichische Politik erklärlich,
aber sie rechtfertigen sie nicht, und zwar deshalb nicht, weil Oestreichs Ver¬
fahren keine unvermeidliche Conscauenz der russisch-preußischen Convention war.
Das wiener Cabinet', indem es die Tragweite der Convention überschätzte, ging
offenbar bei seinen weiteren Schritten von der Ansicht aus, ,daß es, um der
Jsolirung zu entgehen, sich der Preußen und Rußland gegenübertretenden Koa¬
lition anschließen müsse. Ohne Zweifel hatte es dabei die Absicht und auch
vielleicht die Hoffnung, die Pläne der Koalition in den von ihm selbst beliebten
Schranken zu halten. Es konnte sich aber nicht verhehlen, daß dies Bestreben
Oestreich allen Nachtheilen einer zweideutigen und unklaren Politik aussetzen
müsse, ohne es der Vortheile einer solchen theilhaft werden zu lassen. Denn
es ist wohl zu beachten, daß Frankreichs Politik nicht minder zweideutig ist,
ohne im mindesten durch die Rücksichten gebunden zu sein, die Oestreich bei je¬
dem Schritte zu nehmen hat. Es fehlt Oestreich im Vergleich mit Frankreich
die rücksichtslose Freiheit der Bewegung, im Vergleich mit England die Sicherheit
der äußeren Lage und die unanfechtbare völkerrechtliche Grundlage, welche die
Stärke der englischen Stellung ausmacht. Oestreich kann weder, wie Frankreich,
die Rechte der Nationalität reclamiren, da es selbst mit dem Nationalitäts¬
princip in stetem Kampfe sich befindet, noch kann es, wie die englische Re¬
gierung, an die wiener Verträge appelliren, die es selbst durch Einverleibung
Krakaus verletzt hat.

Nachdem Oestreich unzweideutig zu erkennen gegeben hatte, daß es von
jeder Solidarität mit Rußland sich fern zu halten entschlossen sei, hatte es in


leuchtend ist aber, daß es derselben, und zwar durch eine Annäherung an
Rußland entgehen kann. Napoleon wird diese Wendung um so bereitwillige
vollziehen, als sie nicht etwa ein kümmerlicher Ausweg aus einer dringenden
Verlegenheit ist, sondern im Gegentheil Frankreich in eine so überaus günstige
Lage verseht, daß ohne Zweifel, wennauch nicht die Gewißheit, doch die Mög¬
lichkeit dieser Wendung der Dinge vom Beginn des Conflictes an vom Kaiser
ins Auge gefaßt ist.

Wir wiederholen, daß wir nicht an eine augenblickliche Umgestaltung der
Situation denken, die geradezu eine politische Monstrosität wäre, sondern an eine
allmälige Annäherung Rußlands und Frankreichs, die auf den aller Wahr¬
scheinlichkeit nach bevorstehenden Konferenzen die beste Gelegenheit haben wird,
sich zu entwickeln. Die gegenwärtige Gruppirung der Mächte ist eine durchaus
provisorische: eine definitive Gestaltung des europäischen Alliancesystcms wird
erst aus den gemeinsamen Berathungen hervorgehen.

Wie man unter diesen Umständen von einer vermittelnden, dominirenden
Stellung Oestreichs in der polnischen Frage reden kann, ist schwer begreiflich.
Oestreich mag sich zur Vertheidigung seiner Politik auf die Fehler der preußi¬
schen Politik berufen; diese Fehler machen die östreichische Politik erklärlich,
aber sie rechtfertigen sie nicht, und zwar deshalb nicht, weil Oestreichs Ver¬
fahren keine unvermeidliche Conscauenz der russisch-preußischen Convention war.
Das wiener Cabinet', indem es die Tragweite der Convention überschätzte, ging
offenbar bei seinen weiteren Schritten von der Ansicht aus, ,daß es, um der
Jsolirung zu entgehen, sich der Preußen und Rußland gegenübertretenden Koa¬
lition anschließen müsse. Ohne Zweifel hatte es dabei die Absicht und auch
vielleicht die Hoffnung, die Pläne der Koalition in den von ihm selbst beliebten
Schranken zu halten. Es konnte sich aber nicht verhehlen, daß dies Bestreben
Oestreich allen Nachtheilen einer zweideutigen und unklaren Politik aussetzen
müsse, ohne es der Vortheile einer solchen theilhaft werden zu lassen. Denn
es ist wohl zu beachten, daß Frankreichs Politik nicht minder zweideutig ist,
ohne im mindesten durch die Rücksichten gebunden zu sein, die Oestreich bei je¬
dem Schritte zu nehmen hat. Es fehlt Oestreich im Vergleich mit Frankreich
die rücksichtslose Freiheit der Bewegung, im Vergleich mit England die Sicherheit
der äußeren Lage und die unanfechtbare völkerrechtliche Grundlage, welche die
Stärke der englischen Stellung ausmacht. Oestreich kann weder, wie Frankreich,
die Rechte der Nationalität reclamiren, da es selbst mit dem Nationalitäts¬
princip in stetem Kampfe sich befindet, noch kann es, wie die englische Re¬
gierung, an die wiener Verträge appelliren, die es selbst durch Einverleibung
Krakaus verletzt hat.

Nachdem Oestreich unzweideutig zu erkennen gegeben hatte, daß es von
jeder Solidarität mit Rußland sich fern zu halten entschlossen sei, hatte es in


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[0138] leuchtend ist aber, daß es derselben, und zwar durch eine Annäherung an Rußland entgehen kann. Napoleon wird diese Wendung um so bereitwillige vollziehen, als sie nicht etwa ein kümmerlicher Ausweg aus einer dringenden Verlegenheit ist, sondern im Gegentheil Frankreich in eine so überaus günstige Lage verseht, daß ohne Zweifel, wennauch nicht die Gewißheit, doch die Mög¬ lichkeit dieser Wendung der Dinge vom Beginn des Conflictes an vom Kaiser ins Auge gefaßt ist. Wir wiederholen, daß wir nicht an eine augenblickliche Umgestaltung der Situation denken, die geradezu eine politische Monstrosität wäre, sondern an eine allmälige Annäherung Rußlands und Frankreichs, die auf den aller Wahr¬ scheinlichkeit nach bevorstehenden Konferenzen die beste Gelegenheit haben wird, sich zu entwickeln. Die gegenwärtige Gruppirung der Mächte ist eine durchaus provisorische: eine definitive Gestaltung des europäischen Alliancesystcms wird erst aus den gemeinsamen Berathungen hervorgehen. Wie man unter diesen Umständen von einer vermittelnden, dominirenden Stellung Oestreichs in der polnischen Frage reden kann, ist schwer begreiflich. Oestreich mag sich zur Vertheidigung seiner Politik auf die Fehler der preußi¬ schen Politik berufen; diese Fehler machen die östreichische Politik erklärlich, aber sie rechtfertigen sie nicht, und zwar deshalb nicht, weil Oestreichs Ver¬ fahren keine unvermeidliche Conscauenz der russisch-preußischen Convention war. Das wiener Cabinet', indem es die Tragweite der Convention überschätzte, ging offenbar bei seinen weiteren Schritten von der Ansicht aus, ,daß es, um der Jsolirung zu entgehen, sich der Preußen und Rußland gegenübertretenden Koa¬ lition anschließen müsse. Ohne Zweifel hatte es dabei die Absicht und auch vielleicht die Hoffnung, die Pläne der Koalition in den von ihm selbst beliebten Schranken zu halten. Es konnte sich aber nicht verhehlen, daß dies Bestreben Oestreich allen Nachtheilen einer zweideutigen und unklaren Politik aussetzen müsse, ohne es der Vortheile einer solchen theilhaft werden zu lassen. Denn es ist wohl zu beachten, daß Frankreichs Politik nicht minder zweideutig ist, ohne im mindesten durch die Rücksichten gebunden zu sein, die Oestreich bei je¬ dem Schritte zu nehmen hat. Es fehlt Oestreich im Vergleich mit Frankreich die rücksichtslose Freiheit der Bewegung, im Vergleich mit England die Sicherheit der äußeren Lage und die unanfechtbare völkerrechtliche Grundlage, welche die Stärke der englischen Stellung ausmacht. Oestreich kann weder, wie Frankreich, die Rechte der Nationalität reclamiren, da es selbst mit dem Nationalitäts¬ princip in stetem Kampfe sich befindet, noch kann es, wie die englische Re¬ gierung, an die wiener Verträge appelliren, die es selbst durch Einverleibung Krakaus verletzt hat. Nachdem Oestreich unzweideutig zu erkennen gegeben hatte, daß es von jeder Solidarität mit Rußland sich fern zu halten entschlossen sei, hatte es in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/138>, abgerufen am 31.05.2024.