Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

was den lächerlich ungerechten Ausbruch der öffentlichen Entrüstung rechtfer¬
tigen konnte.

Doch wir würden diesen reichen Geist sehr schlecht verstehen, wenn wir
seinen Kampf wider "die Heuchelei" der Gesellschaft allein aus seinen persön¬
lichen Erfahrungen erklären wollten. "Verhaltene Parlamentsreden" hat Goethe
Byrons Gedichte genannt, und sie sind es, sie eröffnen den Neigen jener radi-
calen Opposition, die seit der Mitte der zwanziger Jahre gegen die Romantik
und die heilige Allianz -- in Wahrheit, das System der politischen Heuchelei
-- sich erhob, und nie ist eine Opposition berechtigter, nothwendiger gewesen.
Sie sind ebenso tendenziös gegen die Gebrechen der Gegenwart gerichtet, wie
die Romantik in der Bewunderung der Vorzeit befangen war, ebenso weltbürger¬
lich, wie diese national, ebenso revolutionär, wie diese ruheselig. In ihnen
zeigt sich, zuerst in der Dichtung, der heilsame Rückschlag gegen die Einseitig¬
keit der Feinde Napoleons. Einer Epoche voll überästhetischer Neigungen folgte
nun eine Zeit, deren ganzes Denken von leidenschaftlichen politischen Kämpfen
erfüllt war. Das Geschlecht des wiener Congresses, zierlich und höfisch wie
das kurze Beinkleid und die langen Strümpfe, ward verdrängt durch eine ganz
moderne Generation von ungebundener Natürlichkeit in Tracht und Sitte, von
rastloser Beweglichkeit in Staat und Wirthschaft; und Byron wurde der Herold
dieser neuen Tage. Leider ist es schwer, die geistige Bewegung in scharf
gesonderte Zeiträume zu zerlegen; jede jugendliche ltterarische Richtung, die eine
verlebte bekämpft, ist ja selbst die Tochter ihrer Feindin. Wie wir Byron sehr
Vieles von seinen Gegnern, den Romantikern, entlehnen sehen, so scheidet sich
auch in der Zeit die neue Schule, die mit Byron beginnt, nicht klar von der
früheren ab. Byrons erste Werke fielen noch in die Tage der napoleonischen
Weltherrschaft. Seine feste Richtung, seine ganze Schärfe erhielt aber sein
oppositioneller Sinn erst, al^ er in Italien die gräßlichen Wirkungen des Sy¬
stems der Legitimität vor Augen sah. Da ward er zum Vorkämpfer jener
Revolutionen, die in den zwanziger Jahren den Süden des Welttheils erschüt¬
terten. Und erst lange nach seinem Tode, während und nach der Julirevolution,
sind Byrons Gedanken in Fleisch und Blut der Welt übergegangen, als das
junge Deutschland und eine revolutionäre Literatur in Süd- und Osteuropa
erstand.

Man hat Byrons Haß wider die heilige Allianz aus seiner Schwärmerei
für Napoleon herleiten wollen. Gewiß, er bekannte sich zu jenem überschwäng-
lichen Cultus des Genies, der seine Jünger finden wird, so lange begabte
Menschen leben, und er hatte seine Kenntniß des Wettkampfes vornehmlich aus
den abgeschmackten Märchen der Franzosen geschöpft. Auch er meinte, der
corsische Löwe sei nur darum gefallen, weil aus dem Felde von Leipzig "der
sächsische Schakal" verräterisch seine Zähne in die Mähne des Todtwunden


2*

was den lächerlich ungerechten Ausbruch der öffentlichen Entrüstung rechtfer¬
tigen konnte.

Doch wir würden diesen reichen Geist sehr schlecht verstehen, wenn wir
seinen Kampf wider „die Heuchelei" der Gesellschaft allein aus seinen persön¬
lichen Erfahrungen erklären wollten. „Verhaltene Parlamentsreden" hat Goethe
Byrons Gedichte genannt, und sie sind es, sie eröffnen den Neigen jener radi-
calen Opposition, die seit der Mitte der zwanziger Jahre gegen die Romantik
und die heilige Allianz — in Wahrheit, das System der politischen Heuchelei
— sich erhob, und nie ist eine Opposition berechtigter, nothwendiger gewesen.
Sie sind ebenso tendenziös gegen die Gebrechen der Gegenwart gerichtet, wie
die Romantik in der Bewunderung der Vorzeit befangen war, ebenso weltbürger¬
lich, wie diese national, ebenso revolutionär, wie diese ruheselig. In ihnen
zeigt sich, zuerst in der Dichtung, der heilsame Rückschlag gegen die Einseitig¬
keit der Feinde Napoleons. Einer Epoche voll überästhetischer Neigungen folgte
nun eine Zeit, deren ganzes Denken von leidenschaftlichen politischen Kämpfen
erfüllt war. Das Geschlecht des wiener Congresses, zierlich und höfisch wie
das kurze Beinkleid und die langen Strümpfe, ward verdrängt durch eine ganz
moderne Generation von ungebundener Natürlichkeit in Tracht und Sitte, von
rastloser Beweglichkeit in Staat und Wirthschaft; und Byron wurde der Herold
dieser neuen Tage. Leider ist es schwer, die geistige Bewegung in scharf
gesonderte Zeiträume zu zerlegen; jede jugendliche ltterarische Richtung, die eine
verlebte bekämpft, ist ja selbst die Tochter ihrer Feindin. Wie wir Byron sehr
Vieles von seinen Gegnern, den Romantikern, entlehnen sehen, so scheidet sich
auch in der Zeit die neue Schule, die mit Byron beginnt, nicht klar von der
früheren ab. Byrons erste Werke fielen noch in die Tage der napoleonischen
Weltherrschaft. Seine feste Richtung, seine ganze Schärfe erhielt aber sein
oppositioneller Sinn erst, al^ er in Italien die gräßlichen Wirkungen des Sy¬
stems der Legitimität vor Augen sah. Da ward er zum Vorkämpfer jener
Revolutionen, die in den zwanziger Jahren den Süden des Welttheils erschüt¬
terten. Und erst lange nach seinem Tode, während und nach der Julirevolution,
sind Byrons Gedanken in Fleisch und Blut der Welt übergegangen, als das
junge Deutschland und eine revolutionäre Literatur in Süd- und Osteuropa
erstand.

Man hat Byrons Haß wider die heilige Allianz aus seiner Schwärmerei
für Napoleon herleiten wollen. Gewiß, er bekannte sich zu jenem überschwäng-
lichen Cultus des Genies, der seine Jünger finden wird, so lange begabte
Menschen leben, und er hatte seine Kenntniß des Wettkampfes vornehmlich aus
den abgeschmackten Märchen der Franzosen geschöpft. Auch er meinte, der
corsische Löwe sei nur darum gefallen, weil aus dem Felde von Leipzig „der
sächsische Schakal" verräterisch seine Zähne in die Mähne des Todtwunden


2*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0019" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/115413"/>
          <p xml:id="ID_28" prev="#ID_27"> was den lächerlich ungerechten Ausbruch der öffentlichen Entrüstung rechtfer¬<lb/>
tigen konnte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_29"> Doch wir würden diesen reichen Geist sehr schlecht verstehen, wenn wir<lb/>
seinen Kampf wider &#x201E;die Heuchelei" der Gesellschaft allein aus seinen persön¬<lb/>
lichen Erfahrungen erklären wollten. &#x201E;Verhaltene Parlamentsreden" hat Goethe<lb/>
Byrons Gedichte genannt, und sie sind es, sie eröffnen den Neigen jener radi-<lb/>
calen Opposition, die seit der Mitte der zwanziger Jahre gegen die Romantik<lb/>
und die heilige Allianz &#x2014; in Wahrheit, das System der politischen Heuchelei<lb/>
&#x2014; sich erhob, und nie ist eine Opposition berechtigter, nothwendiger gewesen.<lb/>
Sie sind ebenso tendenziös gegen die Gebrechen der Gegenwart gerichtet, wie<lb/>
die Romantik in der Bewunderung der Vorzeit befangen war, ebenso weltbürger¬<lb/>
lich, wie diese national, ebenso revolutionär, wie diese ruheselig. In ihnen<lb/>
zeigt sich, zuerst in der Dichtung, der heilsame Rückschlag gegen die Einseitig¬<lb/>
keit der Feinde Napoleons. Einer Epoche voll überästhetischer Neigungen folgte<lb/>
nun eine Zeit, deren ganzes Denken von leidenschaftlichen politischen Kämpfen<lb/>
erfüllt war. Das Geschlecht des wiener Congresses, zierlich und höfisch wie<lb/>
das kurze Beinkleid und die langen Strümpfe, ward verdrängt durch eine ganz<lb/>
moderne Generation von ungebundener Natürlichkeit in Tracht und Sitte, von<lb/>
rastloser Beweglichkeit in Staat und Wirthschaft; und Byron wurde der Herold<lb/>
dieser neuen Tage. Leider ist es schwer, die geistige Bewegung in scharf<lb/>
gesonderte Zeiträume zu zerlegen; jede jugendliche ltterarische Richtung, die eine<lb/>
verlebte bekämpft, ist ja selbst die Tochter ihrer Feindin. Wie wir Byron sehr<lb/>
Vieles von seinen Gegnern, den Romantikern, entlehnen sehen, so scheidet sich<lb/>
auch in der Zeit die neue Schule, die mit Byron beginnt, nicht klar von der<lb/>
früheren ab. Byrons erste Werke fielen noch in die Tage der napoleonischen<lb/>
Weltherrschaft. Seine feste Richtung, seine ganze Schärfe erhielt aber sein<lb/>
oppositioneller Sinn erst, al^ er in Italien die gräßlichen Wirkungen des Sy¬<lb/>
stems der Legitimität vor Augen sah. Da ward er zum Vorkämpfer jener<lb/>
Revolutionen, die in den zwanziger Jahren den Süden des Welttheils erschüt¬<lb/>
terten. Und erst lange nach seinem Tode, während und nach der Julirevolution,<lb/>
sind Byrons Gedanken in Fleisch und Blut der Welt übergegangen, als das<lb/>
junge Deutschland und eine revolutionäre Literatur in Süd- und Osteuropa<lb/>
erstand.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_30" next="#ID_31"> Man hat Byrons Haß wider die heilige Allianz aus seiner Schwärmerei<lb/>
für Napoleon herleiten wollen. Gewiß, er bekannte sich zu jenem überschwäng-<lb/>
lichen Cultus des Genies, der seine Jünger finden wird, so lange begabte<lb/>
Menschen leben, und er hatte seine Kenntniß des Wettkampfes vornehmlich aus<lb/>
den abgeschmackten Märchen der Franzosen geschöpft. Auch er meinte, der<lb/>
corsische Löwe sei nur darum gefallen, weil aus dem Felde von Leipzig &#x201E;der<lb/>
sächsische Schakal" verräterisch seine Zähne in die Mähne des Todtwunden</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 2*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0019] was den lächerlich ungerechten Ausbruch der öffentlichen Entrüstung rechtfer¬ tigen konnte. Doch wir würden diesen reichen Geist sehr schlecht verstehen, wenn wir seinen Kampf wider „die Heuchelei" der Gesellschaft allein aus seinen persön¬ lichen Erfahrungen erklären wollten. „Verhaltene Parlamentsreden" hat Goethe Byrons Gedichte genannt, und sie sind es, sie eröffnen den Neigen jener radi- calen Opposition, die seit der Mitte der zwanziger Jahre gegen die Romantik und die heilige Allianz — in Wahrheit, das System der politischen Heuchelei — sich erhob, und nie ist eine Opposition berechtigter, nothwendiger gewesen. Sie sind ebenso tendenziös gegen die Gebrechen der Gegenwart gerichtet, wie die Romantik in der Bewunderung der Vorzeit befangen war, ebenso weltbürger¬ lich, wie diese national, ebenso revolutionär, wie diese ruheselig. In ihnen zeigt sich, zuerst in der Dichtung, der heilsame Rückschlag gegen die Einseitig¬ keit der Feinde Napoleons. Einer Epoche voll überästhetischer Neigungen folgte nun eine Zeit, deren ganzes Denken von leidenschaftlichen politischen Kämpfen erfüllt war. Das Geschlecht des wiener Congresses, zierlich und höfisch wie das kurze Beinkleid und die langen Strümpfe, ward verdrängt durch eine ganz moderne Generation von ungebundener Natürlichkeit in Tracht und Sitte, von rastloser Beweglichkeit in Staat und Wirthschaft; und Byron wurde der Herold dieser neuen Tage. Leider ist es schwer, die geistige Bewegung in scharf gesonderte Zeiträume zu zerlegen; jede jugendliche ltterarische Richtung, die eine verlebte bekämpft, ist ja selbst die Tochter ihrer Feindin. Wie wir Byron sehr Vieles von seinen Gegnern, den Romantikern, entlehnen sehen, so scheidet sich auch in der Zeit die neue Schule, die mit Byron beginnt, nicht klar von der früheren ab. Byrons erste Werke fielen noch in die Tage der napoleonischen Weltherrschaft. Seine feste Richtung, seine ganze Schärfe erhielt aber sein oppositioneller Sinn erst, al^ er in Italien die gräßlichen Wirkungen des Sy¬ stems der Legitimität vor Augen sah. Da ward er zum Vorkämpfer jener Revolutionen, die in den zwanziger Jahren den Süden des Welttheils erschüt¬ terten. Und erst lange nach seinem Tode, während und nach der Julirevolution, sind Byrons Gedanken in Fleisch und Blut der Welt übergegangen, als das junge Deutschland und eine revolutionäre Literatur in Süd- und Osteuropa erstand. Man hat Byrons Haß wider die heilige Allianz aus seiner Schwärmerei für Napoleon herleiten wollen. Gewiß, er bekannte sich zu jenem überschwäng- lichen Cultus des Genies, der seine Jünger finden wird, so lange begabte Menschen leben, und er hatte seine Kenntniß des Wettkampfes vornehmlich aus den abgeschmackten Märchen der Franzosen geschöpft. Auch er meinte, der corsische Löwe sei nur darum gefallen, weil aus dem Felde von Leipzig „der sächsische Schakal" verräterisch seine Zähne in die Mähne des Todtwunden 2*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/19
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/19>, abgerufen am 15.05.2024.