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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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seines eignen Pfades zog, der niemals schrieb: "g. Zilettar 1s temins es
pieds." Das Wunderbarste blieb die Sicherheit und Fruchtbarkeit seiner Dich¬
terkraft. Wie Mirabeau, ein verwandter Geist, wenn er die Tribüne betrat,
die Gemeinheit seines privaten Lebens hinter sich ließ, so war Byron ein an¬
derer, ein reinerer Mensch, wenn die Muse ihm nahte. Einige seiner schönsten
und --friedlichsten Gedichte, die hebräischen Melodieen und Parisina. schrieb er in
den Tagen des bittersten Kummers, da sein Haus zusammen- und der Grimm
seines Landes über ihn hereinbrach! Unsre Väter sollen sich dessen nicht schämen,
daß, weit über die jungdeutschen Kreise hinaus, dieser Dichter von ihnen ver¬
göttert ward. In manchem ehrwürdig-langweiligen Compendium eines gelehr¬
ten deutschen Professors aus alten Tagen überrascht uns noch inmitten sta¬
tistischer Notizen ein Citat aus Byron. Wir verstehen es gar nicht, das deutsche
Geschlecht der zwanziger und dreißiger Jahre, wenn wir Lord Byron nicht
kennen. Man muß die erstickende Luft jener unseligen Tage der heiligen Allianz
selber geathmet, man muß die Gewaltigen der Zeit auf Schritt und Tritt ihres
nichtigen Daseins verfolgt haben, wie sie auf dem veroncser Congresse ihren
leeren Freuden nachgingen, derweil ihre Henker das Glück eines großen Volkes
vernichteten, ihre Schreiber in scheinheiligen Manifesten den Nationen Weisheit
und Tugend predigten^ Man muß sich erinnern, welche ohnmächtige und
vlasirte Sinnlichkeit an jenen frommen Höfen herrschte, mit denen verglichen
sogar die Welt Augusts des Starken als ein Geschlecht naiver, naturwüchsiger
Kraftmenschen erscheint. Nur dann wird man ermessen, wie die Völker auf¬
athmeten bei den Klängen von Byrons Dichtung. Endlich ein Ausbruch star¬
ker Leidenschaft von einem Manne, der mit all seinen Sünden reiner, wahr¬
haftiger war als die gleißnerische Macht; endlich ein Hauch der Freiheit inmit¬
ten der geknechteten Welt!

In unseren Literaturgeschichten kehrt unwidersprochen die Fabel wieder,
daß Byron der erste sei unter den literarischen Stürmern und Drängern, deren
Mittelpunkt später das junge Deutschland bildete. . Aber obgleich Byron aller¬
dings der europäischen Kunst zuerst die revolutionäre Richtung gegen die Ro¬
mantik gab, so war ihm doch Vieles eigen, was ihn unterschied von seinen
Nachfolgern. Er überragte nicht nur sie Alle -- H. Heine allein ausgenommen
-- durch schöpferische Kraft, Witz, Menschenverstand und den von Goethe ihm
nachgerühmten "scharfen Blick die Welt zu schauen", jene sichere Weltkenntniß,
die seinen unerfahrenen Jüngern gänzlich mangelte. Auch den guten künst¬
lerischen Ueberlieferungen der alten Zeit stand er weit näher. Sehr lose gefügt
freilich war der Bau seiner Gedichte, aber er schrieb doch in Versen, in Versen
voll des lautersten Wohlklangs, und schon diese Form bewahrte ihn vor jener
gänzlichen Verwilderung, jenem banausischen, die nackte Prosa mit poetischen
Flittern roh durcheinanderwerfenden Journalistenstile, worein das junge Deutsch-


seines eignen Pfades zog, der niemals schrieb: „g. Zilettar 1s temins es
pieds." Das Wunderbarste blieb die Sicherheit und Fruchtbarkeit seiner Dich¬
terkraft. Wie Mirabeau, ein verwandter Geist, wenn er die Tribüne betrat,
die Gemeinheit seines privaten Lebens hinter sich ließ, so war Byron ein an¬
derer, ein reinerer Mensch, wenn die Muse ihm nahte. Einige seiner schönsten
und —friedlichsten Gedichte, die hebräischen Melodieen und Parisina. schrieb er in
den Tagen des bittersten Kummers, da sein Haus zusammen- und der Grimm
seines Landes über ihn hereinbrach! Unsre Väter sollen sich dessen nicht schämen,
daß, weit über die jungdeutschen Kreise hinaus, dieser Dichter von ihnen ver¬
göttert ward. In manchem ehrwürdig-langweiligen Compendium eines gelehr¬
ten deutschen Professors aus alten Tagen überrascht uns noch inmitten sta¬
tistischer Notizen ein Citat aus Byron. Wir verstehen es gar nicht, das deutsche
Geschlecht der zwanziger und dreißiger Jahre, wenn wir Lord Byron nicht
kennen. Man muß die erstickende Luft jener unseligen Tage der heiligen Allianz
selber geathmet, man muß die Gewaltigen der Zeit auf Schritt und Tritt ihres
nichtigen Daseins verfolgt haben, wie sie auf dem veroncser Congresse ihren
leeren Freuden nachgingen, derweil ihre Henker das Glück eines großen Volkes
vernichteten, ihre Schreiber in scheinheiligen Manifesten den Nationen Weisheit
und Tugend predigten^ Man muß sich erinnern, welche ohnmächtige und
vlasirte Sinnlichkeit an jenen frommen Höfen herrschte, mit denen verglichen
sogar die Welt Augusts des Starken als ein Geschlecht naiver, naturwüchsiger
Kraftmenschen erscheint. Nur dann wird man ermessen, wie die Völker auf¬
athmeten bei den Klängen von Byrons Dichtung. Endlich ein Ausbruch star¬
ker Leidenschaft von einem Manne, der mit all seinen Sünden reiner, wahr¬
haftiger war als die gleißnerische Macht; endlich ein Hauch der Freiheit inmit¬
ten der geknechteten Welt!

In unseren Literaturgeschichten kehrt unwidersprochen die Fabel wieder,
daß Byron der erste sei unter den literarischen Stürmern und Drängern, deren
Mittelpunkt später das junge Deutschland bildete. . Aber obgleich Byron aller¬
dings der europäischen Kunst zuerst die revolutionäre Richtung gegen die Ro¬
mantik gab, so war ihm doch Vieles eigen, was ihn unterschied von seinen
Nachfolgern. Er überragte nicht nur sie Alle — H. Heine allein ausgenommen
— durch schöpferische Kraft, Witz, Menschenverstand und den von Goethe ihm
nachgerühmten „scharfen Blick die Welt zu schauen", jene sichere Weltkenntniß,
die seinen unerfahrenen Jüngern gänzlich mangelte. Auch den guten künst¬
lerischen Ueberlieferungen der alten Zeit stand er weit näher. Sehr lose gefügt
freilich war der Bau seiner Gedichte, aber er schrieb doch in Versen, in Versen
voll des lautersten Wohlklangs, und schon diese Form bewahrte ihn vor jener
gänzlichen Verwilderung, jenem banausischen, die nackte Prosa mit poetischen
Flittern roh durcheinanderwerfenden Journalistenstile, worein das junge Deutsch-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/62>, abgerufen am 09.06.2024.