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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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respondenzen verborgen liegen, läßt sich wenigstens ein getreues Bild des äußern
Zusammenhanges, gewissermaßen ein Umriß der Begebenheiten entwerfen, dem
zunächst noch alle individuellen Züge fehlen, dem aber jede neue Entdeckung,
jede neue Forschung gesteigerte Klarheit und Bestimmtheit verleiht. Schon
eine derartige Fixirung des thatsächlich Bekannten in zusammenhängender Dar¬
stellung ist ein großer Gewinn für die geschichtliche Erkenntniß, die ohne eine
solche sehr bald auch in Bezug auf die zeitlich naheliegenden Ereignisse einer
wüsten und völlig bodenlosen Tradition zu verfallen Pflegt, deren verderblichen
Wirkungen schon die positiv festgestellte und dargestellte Thatsache, auch wenn
sie noch der tieferen Motivirung entbehrt, Widerstand zu leisten vermag.

Indessen ist die zeitgenössische Geschichte keineswegs in der Lage, sich mit
einer rein äußerlichen Darstellung des Zusammenhanges der Begebenheiten be¬
gnügen zu müssen. Auch die hohe Politik vermag gegenwärtig der Unterstützung
der öffentlichen Meinung nicht zu entbehren. Sie wird von dieser beeinflußt
und sucht daher auch sie zu beeinflussen, was sie nur dadurch vermag, daß sie
in einem ununterbrochenen Rapport mit dem Publicum bleibt, und dasselbe bald
über ihre Triebfedern aufzuklären, bald freilich auch zu täuschen versucht. Mag
letzteres bis zu einem gewissen Grade gelingen, mögen die geheimsten Motive
der handelnden Personen eine Zeit lang dem scharfblickender und argwöhnischen
Auge des Beobachters verborgen bleiben, im Allgemeinen wird man behaupten
können, daß die Begebenheiten sich gegenwärtig auch in ihrem inneren Zusam¬
menhange dem Bewußtsein aufmerksamer und unbefangener Beobachter unter
den Zeitgenossen mit einer Bestimmtheit und Klarheit einprägen, wie sie in dem
goldenen Zeitalter der Diplomatie nur dem in die Geheimnisse der schweig¬
samen Sphinx Eingeweihten erreichbar war. Während die alte Staatskunst
ihre Entwürfe und Pläne in Archiven verschloß, die jetzt erst sich zu öffnen und
ihr Licht über die geheimsten Gedanken einer rastlos im Verborgenen wirkenden
Thätigkeit zu verbreiten anfangen, liebt es die Staatskunst der Gegenwart, sich
in Blaubüchern der Oeffentlichkeit darzustellen und die Welt zum Zeugen und
vielfach zum Richter über ihre Handlungen aufzurufen. Das Publicum ge¬
winnt mit dem neuen Nichtcramtc allmälig auch den Scharfblick, der die Gründe
der Parteien gegeneinander abwägt, oft freilich mit derselben Urtheilskraft, mit
der jene Quiriten begabt waren, die von Brutus zum Antonius laufen, um die
Gründe beider vergleichen zu können.

Die Zeit, welche den vorliegenden ersten Theil des springerschen Werkes
behandelt, liegt zum größten Theil vor dem Eindringen der Oeffentlichkeit in
die Staatsactionen, ja in ihr nimmt die alte Cabinetspolitik, nachdem sie die
Unterbrechung durch die Freiheitskriege überstanden hat, noch einmal kräftig
sich zusammen im bewußten Gegensatze gegen die ihrer Ziele sich keineswegs
klar bewußte, unsicher tappende liberale Strömung, die leidenschaftlich genug


respondenzen verborgen liegen, läßt sich wenigstens ein getreues Bild des äußern
Zusammenhanges, gewissermaßen ein Umriß der Begebenheiten entwerfen, dem
zunächst noch alle individuellen Züge fehlen, dem aber jede neue Entdeckung,
jede neue Forschung gesteigerte Klarheit und Bestimmtheit verleiht. Schon
eine derartige Fixirung des thatsächlich Bekannten in zusammenhängender Dar¬
stellung ist ein großer Gewinn für die geschichtliche Erkenntniß, die ohne eine
solche sehr bald auch in Bezug auf die zeitlich naheliegenden Ereignisse einer
wüsten und völlig bodenlosen Tradition zu verfallen Pflegt, deren verderblichen
Wirkungen schon die positiv festgestellte und dargestellte Thatsache, auch wenn
sie noch der tieferen Motivirung entbehrt, Widerstand zu leisten vermag.

Indessen ist die zeitgenössische Geschichte keineswegs in der Lage, sich mit
einer rein äußerlichen Darstellung des Zusammenhanges der Begebenheiten be¬
gnügen zu müssen. Auch die hohe Politik vermag gegenwärtig der Unterstützung
der öffentlichen Meinung nicht zu entbehren. Sie wird von dieser beeinflußt
und sucht daher auch sie zu beeinflussen, was sie nur dadurch vermag, daß sie
in einem ununterbrochenen Rapport mit dem Publicum bleibt, und dasselbe bald
über ihre Triebfedern aufzuklären, bald freilich auch zu täuschen versucht. Mag
letzteres bis zu einem gewissen Grade gelingen, mögen die geheimsten Motive
der handelnden Personen eine Zeit lang dem scharfblickender und argwöhnischen
Auge des Beobachters verborgen bleiben, im Allgemeinen wird man behaupten
können, daß die Begebenheiten sich gegenwärtig auch in ihrem inneren Zusam¬
menhange dem Bewußtsein aufmerksamer und unbefangener Beobachter unter
den Zeitgenossen mit einer Bestimmtheit und Klarheit einprägen, wie sie in dem
goldenen Zeitalter der Diplomatie nur dem in die Geheimnisse der schweig¬
samen Sphinx Eingeweihten erreichbar war. Während die alte Staatskunst
ihre Entwürfe und Pläne in Archiven verschloß, die jetzt erst sich zu öffnen und
ihr Licht über die geheimsten Gedanken einer rastlos im Verborgenen wirkenden
Thätigkeit zu verbreiten anfangen, liebt es die Staatskunst der Gegenwart, sich
in Blaubüchern der Oeffentlichkeit darzustellen und die Welt zum Zeugen und
vielfach zum Richter über ihre Handlungen aufzurufen. Das Publicum ge¬
winnt mit dem neuen Nichtcramtc allmälig auch den Scharfblick, der die Gründe
der Parteien gegeneinander abwägt, oft freilich mit derselben Urtheilskraft, mit
der jene Quiriten begabt waren, die von Brutus zum Antonius laufen, um die
Gründe beider vergleichen zu können.

Die Zeit, welche den vorliegenden ersten Theil des springerschen Werkes
behandelt, liegt zum größten Theil vor dem Eindringen der Oeffentlichkeit in
die Staatsactionen, ja in ihr nimmt die alte Cabinetspolitik, nachdem sie die
Unterbrechung durch die Freiheitskriege überstanden hat, noch einmal kräftig
sich zusammen im bewußten Gegensatze gegen die ihrer Ziele sich keineswegs
klar bewußte, unsicher tappende liberale Strömung, die leidenschaftlich genug


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[0486] respondenzen verborgen liegen, läßt sich wenigstens ein getreues Bild des äußern Zusammenhanges, gewissermaßen ein Umriß der Begebenheiten entwerfen, dem zunächst noch alle individuellen Züge fehlen, dem aber jede neue Entdeckung, jede neue Forschung gesteigerte Klarheit und Bestimmtheit verleiht. Schon eine derartige Fixirung des thatsächlich Bekannten in zusammenhängender Dar¬ stellung ist ein großer Gewinn für die geschichtliche Erkenntniß, die ohne eine solche sehr bald auch in Bezug auf die zeitlich naheliegenden Ereignisse einer wüsten und völlig bodenlosen Tradition zu verfallen Pflegt, deren verderblichen Wirkungen schon die positiv festgestellte und dargestellte Thatsache, auch wenn sie noch der tieferen Motivirung entbehrt, Widerstand zu leisten vermag. Indessen ist die zeitgenössische Geschichte keineswegs in der Lage, sich mit einer rein äußerlichen Darstellung des Zusammenhanges der Begebenheiten be¬ gnügen zu müssen. Auch die hohe Politik vermag gegenwärtig der Unterstützung der öffentlichen Meinung nicht zu entbehren. Sie wird von dieser beeinflußt und sucht daher auch sie zu beeinflussen, was sie nur dadurch vermag, daß sie in einem ununterbrochenen Rapport mit dem Publicum bleibt, und dasselbe bald über ihre Triebfedern aufzuklären, bald freilich auch zu täuschen versucht. Mag letzteres bis zu einem gewissen Grade gelingen, mögen die geheimsten Motive der handelnden Personen eine Zeit lang dem scharfblickender und argwöhnischen Auge des Beobachters verborgen bleiben, im Allgemeinen wird man behaupten können, daß die Begebenheiten sich gegenwärtig auch in ihrem inneren Zusam¬ menhange dem Bewußtsein aufmerksamer und unbefangener Beobachter unter den Zeitgenossen mit einer Bestimmtheit und Klarheit einprägen, wie sie in dem goldenen Zeitalter der Diplomatie nur dem in die Geheimnisse der schweig¬ samen Sphinx Eingeweihten erreichbar war. Während die alte Staatskunst ihre Entwürfe und Pläne in Archiven verschloß, die jetzt erst sich zu öffnen und ihr Licht über die geheimsten Gedanken einer rastlos im Verborgenen wirkenden Thätigkeit zu verbreiten anfangen, liebt es die Staatskunst der Gegenwart, sich in Blaubüchern der Oeffentlichkeit darzustellen und die Welt zum Zeugen und vielfach zum Richter über ihre Handlungen aufzurufen. Das Publicum ge¬ winnt mit dem neuen Nichtcramtc allmälig auch den Scharfblick, der die Gründe der Parteien gegeneinander abwägt, oft freilich mit derselben Urtheilskraft, mit der jene Quiriten begabt waren, die von Brutus zum Antonius laufen, um die Gründe beider vergleichen zu können. Die Zeit, welche den vorliegenden ersten Theil des springerschen Werkes behandelt, liegt zum größten Theil vor dem Eindringen der Oeffentlichkeit in die Staatsactionen, ja in ihr nimmt die alte Cabinetspolitik, nachdem sie die Unterbrechung durch die Freiheitskriege überstanden hat, noch einmal kräftig sich zusammen im bewußten Gegensatze gegen die ihrer Ziele sich keineswegs klar bewußte, unsicher tappende liberale Strömung, die leidenschaftlich genug

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/486>, abgerufen am 19.05.2024.