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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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ist, um in blinder Ueberstürzung an mehren Punkten des Continents die be¬
stehenden Verhältnisse zu erschüttern, fast nirgends stark genug, um den wie¬
dergesammelten reactionären und conservativen Kräften einen nachhaltigen Wi¬
derstand entgegenzusetzen und eine dauernde Ordnung auf Grund einer freisin¬
nigen Auffassung der staatlichen Verhältnisse zu begründen. Den Mittelpunkt
des reactionären Systems bildet eine Reihe von Jahren hindurch das östreichische
Cabinet, das von Beginn der Katastrophe an, die den Sturz Napoleons her¬
beiführte, bei allen seinen Schritten das Ziel im Auge hatte, die Einwirkung
der volkstümlichen Kräfte auf den Gang des Kampfes abzuschwächen, um im
Voraus die Neugestaltung der Verhältnisse nach durchgeführten Kampfe dem
Einflüsse der Völker zu entziehen. Die Aufgabe war der Art, daß sie nur unter
dem Schleier des Geheimnisses gelingen konnte. Nur unter dem Schleier des Ge¬
heimnisses vermochte Metternich seine volle Virtuosität in den Künsten zu ent¬
wickeln, die Oestreich zu einer beherrschenden Stellung in dem europäischen Are-
opag erhoben, zugleich aber jenen inneren Zersetzungsproceß vorbereitet haben,
der das lockere, übel zusammenhängende Gefüge des Kaiserstaates zerrüttete und
dessen auflösender Wirkung nur durch eine furchtbare Erschütterung ein vor¬
läufiges Ziel gesetzt wurde. Indessen da nicht alle Theilnehmer an dem seit
den Befreiungskriegen abgespielten Geschichtsdrama ihren Vortheil in dem
Geheimniß sahen, so ist bereits gegenwärtig über die hinter den Coulissen voll¬
zogene Thätigkeit ein Helles und scharfes Licht ausgebreitet. Was insbesondere
Oestreich betrifft, so ist das Urtheil über Franz den Ersten und Metternich, die
bereits der mythenbildenden Macht der Tradition anheimgefallen waren, seit einigen
Jahren völlig umgewandelt und wohl für alle Zeiten festgestellt. Wir erinnern in
Beziehung hierauf nur an Schmidts zeitgenössische Geschickte, deren Enthüllun¬
gen, wie sich von selbst versteht, auch diesem Buche vielfach zu Gute gekommen
sind. Wie viel die Kenntniß der Geschichte jener Zeit Castlereaghs Correspon-
denz und anderen Aufzeichnungen von Mithcmdelndcn zu verdanken hat, ist be¬
kannt. So stand dem Verfasser ein reiches Quellenmaterial zu Gebote, welches
mit großer Gewissenhaftigkeit, Sorgfalt und einsichtiger Kritik benutzt ist; denn
allerdings der kritischen Sichtung bedürfte es in hohem Grade, um den Werth
von Zeugnissen festzustellen, die zum großen Theil entweder apologetische oder
polemische Tendenzen verfolgen. Je näher der Zeuge den Begebenheiten steht,
je tiefer also seine Sachkenntniß ist, um so mehr ist er der Gefahr ausgesetzt,
seine Stellung zu den Dingen zum Maße der Dinge zu machen, was selbst
dem hochgestellten Versasser der Genesis der Revolution in Oestreich vielfach be¬
gegnet ist.

Zu den wichtigsten von dem Verfasser benutzten Documenten gehören die Ver¬
handlungen des ungarischen, so wie die Protokolle der böhmischen Landtage. Für
die Darstellung des verwickelten Staatsorganismus und der Finanzen standen dem


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ist, um in blinder Ueberstürzung an mehren Punkten des Continents die be¬
stehenden Verhältnisse zu erschüttern, fast nirgends stark genug, um den wie¬
dergesammelten reactionären und conservativen Kräften einen nachhaltigen Wi¬
derstand entgegenzusetzen und eine dauernde Ordnung auf Grund einer freisin¬
nigen Auffassung der staatlichen Verhältnisse zu begründen. Den Mittelpunkt
des reactionären Systems bildet eine Reihe von Jahren hindurch das östreichische
Cabinet, das von Beginn der Katastrophe an, die den Sturz Napoleons her¬
beiführte, bei allen seinen Schritten das Ziel im Auge hatte, die Einwirkung
der volkstümlichen Kräfte auf den Gang des Kampfes abzuschwächen, um im
Voraus die Neugestaltung der Verhältnisse nach durchgeführten Kampfe dem
Einflüsse der Völker zu entziehen. Die Aufgabe war der Art, daß sie nur unter
dem Schleier des Geheimnisses gelingen konnte. Nur unter dem Schleier des Ge¬
heimnisses vermochte Metternich seine volle Virtuosität in den Künsten zu ent¬
wickeln, die Oestreich zu einer beherrschenden Stellung in dem europäischen Are-
opag erhoben, zugleich aber jenen inneren Zersetzungsproceß vorbereitet haben,
der das lockere, übel zusammenhängende Gefüge des Kaiserstaates zerrüttete und
dessen auflösender Wirkung nur durch eine furchtbare Erschütterung ein vor¬
läufiges Ziel gesetzt wurde. Indessen da nicht alle Theilnehmer an dem seit
den Befreiungskriegen abgespielten Geschichtsdrama ihren Vortheil in dem
Geheimniß sahen, so ist bereits gegenwärtig über die hinter den Coulissen voll¬
zogene Thätigkeit ein Helles und scharfes Licht ausgebreitet. Was insbesondere
Oestreich betrifft, so ist das Urtheil über Franz den Ersten und Metternich, die
bereits der mythenbildenden Macht der Tradition anheimgefallen waren, seit einigen
Jahren völlig umgewandelt und wohl für alle Zeiten festgestellt. Wir erinnern in
Beziehung hierauf nur an Schmidts zeitgenössische Geschickte, deren Enthüllun¬
gen, wie sich von selbst versteht, auch diesem Buche vielfach zu Gute gekommen
sind. Wie viel die Kenntniß der Geschichte jener Zeit Castlereaghs Correspon-
denz und anderen Aufzeichnungen von Mithcmdelndcn zu verdanken hat, ist be¬
kannt. So stand dem Verfasser ein reiches Quellenmaterial zu Gebote, welches
mit großer Gewissenhaftigkeit, Sorgfalt und einsichtiger Kritik benutzt ist; denn
allerdings der kritischen Sichtung bedürfte es in hohem Grade, um den Werth
von Zeugnissen festzustellen, die zum großen Theil entweder apologetische oder
polemische Tendenzen verfolgen. Je näher der Zeuge den Begebenheiten steht,
je tiefer also seine Sachkenntniß ist, um so mehr ist er der Gefahr ausgesetzt,
seine Stellung zu den Dingen zum Maße der Dinge zu machen, was selbst
dem hochgestellten Versasser der Genesis der Revolution in Oestreich vielfach be¬
gegnet ist.

Zu den wichtigsten von dem Verfasser benutzten Documenten gehören die Ver¬
handlungen des ungarischen, so wie die Protokolle der böhmischen Landtage. Für
die Darstellung des verwickelten Staatsorganismus und der Finanzen standen dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/487>, abgerufen am 11.06.2024.