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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Menschengeschlechts in Europa in eine Urzeit zurückführen, deren Entfernung
von der Gegenwart nach Zehntausenden unsrer Jahre geschätzt werden müßte.
So ist unser Wissen aus vergangener Zeit zuerst abhängig von schriftlichen
Aufzeichnungen, dann von Bauwerken, zuletzt von erhaltenem Gebein.

Und doch giebt es in jedem lebenden Volke außer diesen Ueberlieferungen
noch andere, welche bei geschickter Benutzung überraschende Aufschlüsse über
solche Zeiten geben sonnen, aus welchen keine schriftlichen Denkmäler erhalten
sind. Dies sind die mündlichen Traditionen des Volkes selbst, seine Gewohn¬
heiten. Sitten, seine Sprache. Erst in der Wellen Zeit hat man begriffen, wie
wichtig das gegenwärtige Volksleben für Kenntniß weitabliegender Zeiten wer¬
den kann. Erst seit etwa fünfzig Jahren hat man begonnen, diese lebendigen
Traditionen systematisch für die Geschichtswissenschaft zu verwerthen, und sie
werfen seitdem ein Helles Licht auf Vieles, was in keinem alten Schriftstück,
keinem massigen Steinbau, keinem Höhlcngrab bewahrt ist. Es ist eine Ehre
verdeutschen Altertumswissenschaft, zuerst auf diese lebenden Volkserinnerungen
hingewiesen zu haben, es ist noch jetzt ihr Verdienst, dieselben am tiefsinnigsten
zu verwerthen. Vor andern die Erinnerungen und Habe unsres Volkes für
Kenntniß der deutschen Vorzeit.

Allerdings würde sehr enttäuscht werden, wer aus den Erinnerungen, welche
noch im deutschen Volke leben, eine politische Geschichte auch nur der nächsten
Vergangenheit zusammenfügen wollte. Denn es ist merkwürdig, wie schnell im
Volke Kenntniß und Interesse an seiner politischen Vergangenheit schwindet.
Wer unsre Landleute, so weit sie von der modernen Literatur keine Kenntniß
haben, über den dreißigjährigen Krieg, über Luther und die Reformation aus¬
fragen wollte, der würde vielleicht einzelne Anekdoten herausholen, welche zu¬
fällig in dem Gedächtniß der Landschaft gehaftet haben. Auch diese von zweifel¬
hafter Glaubwürdigkeit, Er würde aber vergebens die wichtigsten Begebenheiten
jener Jahrhunderte aufsuchen und er würde das Erhaltene schwerlich in einen
verständlichen Zusammenhang bringen können. Von den 1S00 Jahren deutscher
Geschichte vor Luther aber ist kaum ein historischer Name, eine Begebenheit
in der Ueberlieferung des Volkes lebendig gebliebe". In dem thüringischen
Landvolk wird man noch hier und da eine dunkle Erinnerung an die Hussiten¬
kriege finden; man wird den Namen Karl des Großen und des Hohenstaufen-
kaisers Barbarossa in märchenhafter und phantastischer Umhüllung entdecken;
außerdem eine Anekdote vom harten Landgrafen, vom sächsischen Prinzenraub,
einige Legenden von der heiligen Elisabeth, dem sagenhaften Sprung Ludwig
des Springers, vielleicht eine unsichere Spur des Heidenbekehrers Bonifacius.
Und erst nähere Betrachtung würde ergeben, ob nicht selbst diese dürftigen
Erinnerungen in den letzten Jahrhunderten durch Pfarrer. Schullehrer, Flug¬
schriften, Kalender und Puppenspiele wieder in das Volk gekommen sind.


Menschengeschlechts in Europa in eine Urzeit zurückführen, deren Entfernung
von der Gegenwart nach Zehntausenden unsrer Jahre geschätzt werden müßte.
So ist unser Wissen aus vergangener Zeit zuerst abhängig von schriftlichen
Aufzeichnungen, dann von Bauwerken, zuletzt von erhaltenem Gebein.

Und doch giebt es in jedem lebenden Volke außer diesen Ueberlieferungen
noch andere, welche bei geschickter Benutzung überraschende Aufschlüsse über
solche Zeiten geben sonnen, aus welchen keine schriftlichen Denkmäler erhalten
sind. Dies sind die mündlichen Traditionen des Volkes selbst, seine Gewohn¬
heiten. Sitten, seine Sprache. Erst in der Wellen Zeit hat man begriffen, wie
wichtig das gegenwärtige Volksleben für Kenntniß weitabliegender Zeiten wer¬
den kann. Erst seit etwa fünfzig Jahren hat man begonnen, diese lebendigen
Traditionen systematisch für die Geschichtswissenschaft zu verwerthen, und sie
werfen seitdem ein Helles Licht auf Vieles, was in keinem alten Schriftstück,
keinem massigen Steinbau, keinem Höhlcngrab bewahrt ist. Es ist eine Ehre
verdeutschen Altertumswissenschaft, zuerst auf diese lebenden Volkserinnerungen
hingewiesen zu haben, es ist noch jetzt ihr Verdienst, dieselben am tiefsinnigsten
zu verwerthen. Vor andern die Erinnerungen und Habe unsres Volkes für
Kenntniß der deutschen Vorzeit.

Allerdings würde sehr enttäuscht werden, wer aus den Erinnerungen, welche
noch im deutschen Volke leben, eine politische Geschichte auch nur der nächsten
Vergangenheit zusammenfügen wollte. Denn es ist merkwürdig, wie schnell im
Volke Kenntniß und Interesse an seiner politischen Vergangenheit schwindet.
Wer unsre Landleute, so weit sie von der modernen Literatur keine Kenntniß
haben, über den dreißigjährigen Krieg, über Luther und die Reformation aus¬
fragen wollte, der würde vielleicht einzelne Anekdoten herausholen, welche zu¬
fällig in dem Gedächtniß der Landschaft gehaftet haben. Auch diese von zweifel¬
hafter Glaubwürdigkeit, Er würde aber vergebens die wichtigsten Begebenheiten
jener Jahrhunderte aufsuchen und er würde das Erhaltene schwerlich in einen
verständlichen Zusammenhang bringen können. Von den 1S00 Jahren deutscher
Geschichte vor Luther aber ist kaum ein historischer Name, eine Begebenheit
in der Ueberlieferung des Volkes lebendig gebliebe». In dem thüringischen
Landvolk wird man noch hier und da eine dunkle Erinnerung an die Hussiten¬
kriege finden; man wird den Namen Karl des Großen und des Hohenstaufen-
kaisers Barbarossa in märchenhafter und phantastischer Umhüllung entdecken;
außerdem eine Anekdote vom harten Landgrafen, vom sächsischen Prinzenraub,
einige Legenden von der heiligen Elisabeth, dem sagenhaften Sprung Ludwig
des Springers, vielleicht eine unsichere Spur des Heidenbekehrers Bonifacius.
Und erst nähere Betrachtung würde ergeben, ob nicht selbst diese dürftigen
Erinnerungen in den letzten Jahrhunderten durch Pfarrer. Schullehrer, Flug¬
schriften, Kalender und Puppenspiele wieder in das Volk gekommen sind.


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[0210] Menschengeschlechts in Europa in eine Urzeit zurückführen, deren Entfernung von der Gegenwart nach Zehntausenden unsrer Jahre geschätzt werden müßte. So ist unser Wissen aus vergangener Zeit zuerst abhängig von schriftlichen Aufzeichnungen, dann von Bauwerken, zuletzt von erhaltenem Gebein. Und doch giebt es in jedem lebenden Volke außer diesen Ueberlieferungen noch andere, welche bei geschickter Benutzung überraschende Aufschlüsse über solche Zeiten geben sonnen, aus welchen keine schriftlichen Denkmäler erhalten sind. Dies sind die mündlichen Traditionen des Volkes selbst, seine Gewohn¬ heiten. Sitten, seine Sprache. Erst in der Wellen Zeit hat man begriffen, wie wichtig das gegenwärtige Volksleben für Kenntniß weitabliegender Zeiten wer¬ den kann. Erst seit etwa fünfzig Jahren hat man begonnen, diese lebendigen Traditionen systematisch für die Geschichtswissenschaft zu verwerthen, und sie werfen seitdem ein Helles Licht auf Vieles, was in keinem alten Schriftstück, keinem massigen Steinbau, keinem Höhlcngrab bewahrt ist. Es ist eine Ehre verdeutschen Altertumswissenschaft, zuerst auf diese lebenden Volkserinnerungen hingewiesen zu haben, es ist noch jetzt ihr Verdienst, dieselben am tiefsinnigsten zu verwerthen. Vor andern die Erinnerungen und Habe unsres Volkes für Kenntniß der deutschen Vorzeit. Allerdings würde sehr enttäuscht werden, wer aus den Erinnerungen, welche noch im deutschen Volke leben, eine politische Geschichte auch nur der nächsten Vergangenheit zusammenfügen wollte. Denn es ist merkwürdig, wie schnell im Volke Kenntniß und Interesse an seiner politischen Vergangenheit schwindet. Wer unsre Landleute, so weit sie von der modernen Literatur keine Kenntniß haben, über den dreißigjährigen Krieg, über Luther und die Reformation aus¬ fragen wollte, der würde vielleicht einzelne Anekdoten herausholen, welche zu¬ fällig in dem Gedächtniß der Landschaft gehaftet haben. Auch diese von zweifel¬ hafter Glaubwürdigkeit, Er würde aber vergebens die wichtigsten Begebenheiten jener Jahrhunderte aufsuchen und er würde das Erhaltene schwerlich in einen verständlichen Zusammenhang bringen können. Von den 1S00 Jahren deutscher Geschichte vor Luther aber ist kaum ein historischer Name, eine Begebenheit in der Ueberlieferung des Volkes lebendig gebliebe». In dem thüringischen Landvolk wird man noch hier und da eine dunkle Erinnerung an die Hussiten¬ kriege finden; man wird den Namen Karl des Großen und des Hohenstaufen- kaisers Barbarossa in märchenhafter und phantastischer Umhüllung entdecken; außerdem eine Anekdote vom harten Landgrafen, vom sächsischen Prinzenraub, einige Legenden von der heiligen Elisabeth, dem sagenhaften Sprung Ludwig des Springers, vielleicht eine unsichere Spur des Heidenbekehrers Bonifacius. Und erst nähere Betrachtung würde ergeben, ob nicht selbst diese dürftigen Erinnerungen in den letzten Jahrhunderten durch Pfarrer. Schullehrer, Flug¬ schriften, Kalender und Puppenspiele wieder in das Volk gekommen sind.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/210>, abgerufen am 19.05.2024.