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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Aber wenn befremdet, wie mangelhaft das Gedächtniß des Volkes Namen,
Ereignisse und Zustände früherer Geschlechter bewahrt, so ist noch" auffallender die
Treue, womit dasselbe alle Erinnerungen hegt, welche entweder seinem Gemüthe
wohlthun, oder mit einöln praktischen Interesse verbunden sind. Die Dauer¬
einzelner Dialekteigenthümlichkeiten, Sitten und Gebräuche zählt mehr als
anderthalb Jahrtausende. Die Festbräuche der Johannisnacht wurden schon ge-,
feiert, bevor Armin die römischen Legionen im teutoburger Walde vernichtete.
Einige abergläubische Gewohnheiten unserer Landleute stammen noch aus einer
Urzeit des Menschengeschlechts, in welche keine geschichtliche Kunde einen Licht
Strahl wirft. So z. B. ist das Ausspucken und Ausstrecken der Zunge zur Ab¬
wehr mißgünstigen Zaubers allen indogermanischen Völkern gemein, es war
schon ein uralter Aberglaube, als der Grieche Phidias das Gorgonenhaupt
auf den Brustpanzer der Göttin Athene meißelte, es war viele Jahrtausende
alt, als über dem Thore des Grimmensteins das Steinbild mit herausgcstreckter
Zunge eingefügt wurde, welches man vor einigen Jahren zu Gotha unter
altem Geröll auffand. Einzelne Segensspruche gegen Verletzungen, Krankheiten,
das Alpdrücken sind nicht nur den Deutschen, als mehrtausendjähriger Besitz,
mit Celten und Slaven gemein, sie finden sich zuweilen mit wörtlicher Ueber¬
einstimmung der Formeln schon in den ältesten Religionsbüchern der Inder.
Sie waren offenbar schon ehrwürdige Recepte der Heilkunde, bevor sich Inder.
Celten, Germanen in den Hochebenen Asiens von einander sonderten. Es ist
eine alte thüringische Aufzeichnung, welche uns -- in der berühmten merseburger
Handschrift -- einige dieser heilkräftigen Segensspruche noch aus der Heidenzeit
unserer Landschaft bewahrt.

Die Treue, mit welcher das Volk seine Ueberlieferungen bewahrte, hing
natürlich von der Wichtigkeit ab, welche es ihnen beilegte. Bis in die neue Zeit
war die Bedeutung dieser Erinnerungen zumal auf dem Lande so groß, daß
man wohl sagen darf, der größte Theil des innern Lebens verlief dem Volke
in ihnen. Die Volkslieder und Märchen der Spinnstube waren seine Poesie,
in welcher Schmerz und Jubel. Klage und Sehnsucht, jede Stimmung der
bewegten Seele reichen Ausdruck fand, einen Ausdruck, dessen Einfachheit, Schön¬
heit und herzrührende Einfalt noch wir oft bewundern. Die Localsagen ver¬
traten dem Dorfe die Geschichte des Ortes.. In dem dunklen Wasser ist ein
verzaubertes Schloß versunken, auf den Steinen der alten Burg zeigte sich eine
weiße Frau, in dem Berge liegt ein Schatz, der von einem feurigen Hunde
oder Drachen bewacht wird, in der Felsenhöhle haust ein Geschlecht kleiner
Zwerge, auf der Dorfflur gebt ein feuriger Mann UM, der bei Lebzeiten den
Nachbarn die Grenzsteine verrückt hat, in dem alten Hause wohnt ein Kobold,
in dem Teiche oder Bache ein Nix. das sind die gewöhnlichen Localsagen inner-
halb der Dorfgrenze.


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Aber wenn befremdet, wie mangelhaft das Gedächtniß des Volkes Namen,
Ereignisse und Zustände früherer Geschlechter bewahrt, so ist noch» auffallender die
Treue, womit dasselbe alle Erinnerungen hegt, welche entweder seinem Gemüthe
wohlthun, oder mit einöln praktischen Interesse verbunden sind. Die Dauer¬
einzelner Dialekteigenthümlichkeiten, Sitten und Gebräuche zählt mehr als
anderthalb Jahrtausende. Die Festbräuche der Johannisnacht wurden schon ge-,
feiert, bevor Armin die römischen Legionen im teutoburger Walde vernichtete.
Einige abergläubische Gewohnheiten unserer Landleute stammen noch aus einer
Urzeit des Menschengeschlechts, in welche keine geschichtliche Kunde einen Licht
Strahl wirft. So z. B. ist das Ausspucken und Ausstrecken der Zunge zur Ab¬
wehr mißgünstigen Zaubers allen indogermanischen Völkern gemein, es war
schon ein uralter Aberglaube, als der Grieche Phidias das Gorgonenhaupt
auf den Brustpanzer der Göttin Athene meißelte, es war viele Jahrtausende
alt, als über dem Thore des Grimmensteins das Steinbild mit herausgcstreckter
Zunge eingefügt wurde, welches man vor einigen Jahren zu Gotha unter
altem Geröll auffand. Einzelne Segensspruche gegen Verletzungen, Krankheiten,
das Alpdrücken sind nicht nur den Deutschen, als mehrtausendjähriger Besitz,
mit Celten und Slaven gemein, sie finden sich zuweilen mit wörtlicher Ueber¬
einstimmung der Formeln schon in den ältesten Religionsbüchern der Inder.
Sie waren offenbar schon ehrwürdige Recepte der Heilkunde, bevor sich Inder.
Celten, Germanen in den Hochebenen Asiens von einander sonderten. Es ist
eine alte thüringische Aufzeichnung, welche uns — in der berühmten merseburger
Handschrift — einige dieser heilkräftigen Segensspruche noch aus der Heidenzeit
unserer Landschaft bewahrt.

Die Treue, mit welcher das Volk seine Ueberlieferungen bewahrte, hing
natürlich von der Wichtigkeit ab, welche es ihnen beilegte. Bis in die neue Zeit
war die Bedeutung dieser Erinnerungen zumal auf dem Lande so groß, daß
man wohl sagen darf, der größte Theil des innern Lebens verlief dem Volke
in ihnen. Die Volkslieder und Märchen der Spinnstube waren seine Poesie,
in welcher Schmerz und Jubel. Klage und Sehnsucht, jede Stimmung der
bewegten Seele reichen Ausdruck fand, einen Ausdruck, dessen Einfachheit, Schön¬
heit und herzrührende Einfalt noch wir oft bewundern. Die Localsagen ver¬
traten dem Dorfe die Geschichte des Ortes.. In dem dunklen Wasser ist ein
verzaubertes Schloß versunken, auf den Steinen der alten Burg zeigte sich eine
weiße Frau, in dem Berge liegt ein Schatz, der von einem feurigen Hunde
oder Drachen bewacht wird, in der Felsenhöhle haust ein Geschlecht kleiner
Zwerge, auf der Dorfflur gebt ein feuriger Mann UM, der bei Lebzeiten den
Nachbarn die Grenzsteine verrückt hat, in dem alten Hause wohnt ein Kobold,
in dem Teiche oder Bache ein Nix. das sind die gewöhnlichen Localsagen inner-
halb der Dorfgrenze.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/211>, abgerufen am 10.06.2024.