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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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schwanden, finden wir in der Ältesten Kirche da und dort im Gebrauch; noch
in der Mitte des zweiten Jahrhunderts treffen wir kirchliche Schriftsteller, welche
andere Evangelien benutzen als die unsrigen, und welche solche Schriften noch
nicht kennen, die jetzt in unsrem Kanon sich befinden. Erst am Ende des
zweiten Jahrhunderts -- also welcher Abstand von der angeblichen Abfassung
-- finden wir den Kanon zu einem gewissen Abschluß gediehen, bei Schrift-
stellern, welche, auf die Befestigung der kirchlichen Einheit bedacht, auch die lite-
rarische Ueberlieferung fixirten. Erst jetzt begann man jenen Schriften den
Charakter göttlicher Eingebung beizulegen, den man bisher den prophetischen
Büchern des alten Testaments zuschrieb. Jetzt erst stellte man dem alten Testa¬
ment ein neues Testament zur Seite. Bei Irenäus, dem Bischof zu Lugdunum
(Lyon), finden sich zuerst die Begriffe von Inspiration und Kanonicität. Aber
selbst dieser am Schluß des zweiten Jahrhunderts stehende Kirchenvater legt
noch so wenig Gewicht auf die Schrift, daß er meint, der christliche Glaube
wäre nicht gefährdet, wenn auch von den Aposteln keine Schriften vererbt
worden wären, da die apostolischen Schriften durch die Tradition ersetzt werden
könnten. So sehr überwog damals noch die lebendige Ueberlieferung. Erst in
dem Maße, als diese sich zu rrübcn oder zu erlöschen begann, als das Ver¬
lange" einer festeren Eonsiituirung der Kirche auch in dogmatischer Beziehung
erwachte und gegenüber den Ketzern eine wirksamere Waffe nöthig schien, als
die haltlose Berufung auf die Tradition, zeigte sich auch das Bedürfniß eines
geschlossenen Kreises schriftlicher Ueberlieferungen und zwar gesetzgebender, höchst
beglaubigter, von Gott eingegebener Glaubensurlündcn.

Dogmatische, kirchliche Motive waren es also, welche zum Abschluß des
Kanons führten. Dogmatische Motive waren es auch in der Regel, welche
den Schwankungen zu Grunde lagen, bevor der Kanon zum Abschluß kam.
Durchaus sehen wir die Kritik unter der Herrschaft der Dogmatik stehen. Nicht
die Kirchenlehre wird nach dein Kanonischen, sondern das Kanonische nach der
Kirchenlehre bemessen. Ein schlagendes Beispiel hierfür ist das Schicksal, wel¬
ches die Offenbarung des Johannes gehabt hat. Keine Schrift ist, selbst wenn
ihr hohes Alter nicht aus ihrem Inhalt sich erweisen ließe, durch bessere und
ältere Zeugnisse als Apostclschrift beglaubigt als diese. So weit sich die Spuren
der christlichen Literatur überhaupt zurückverfolgen lassen, treffen wir auf die
Offenbarung, und mit Papias, dem in der Kirchengeschichte des Eusebius er¬
wähnten Bischof von Hierapolis, der noch "ein Hörer des Johannes" war,
reichen die Zeugnisse bis in die Zeit des Apostels selbst hinauf. Allein in
dem Maße, als die schroff judenchristliche Denkweise, aus welcher diese fana¬
tische Zornesschnft heraus geschrieben ist, in der Kirche überwunden wurde,
nahm auch das Interesse an ihr ab. Je bedenklicher die Lehre vom tausend¬
jährigen Reich einer späteren Zeit erschien, um so verdächtiger wurde auch das


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schwanden, finden wir in der Ältesten Kirche da und dort im Gebrauch; noch
in der Mitte des zweiten Jahrhunderts treffen wir kirchliche Schriftsteller, welche
andere Evangelien benutzen als die unsrigen, und welche solche Schriften noch
nicht kennen, die jetzt in unsrem Kanon sich befinden. Erst am Ende des
zweiten Jahrhunderts — also welcher Abstand von der angeblichen Abfassung
— finden wir den Kanon zu einem gewissen Abschluß gediehen, bei Schrift-
stellern, welche, auf die Befestigung der kirchlichen Einheit bedacht, auch die lite-
rarische Ueberlieferung fixirten. Erst jetzt begann man jenen Schriften den
Charakter göttlicher Eingebung beizulegen, den man bisher den prophetischen
Büchern des alten Testaments zuschrieb. Jetzt erst stellte man dem alten Testa¬
ment ein neues Testament zur Seite. Bei Irenäus, dem Bischof zu Lugdunum
(Lyon), finden sich zuerst die Begriffe von Inspiration und Kanonicität. Aber
selbst dieser am Schluß des zweiten Jahrhunderts stehende Kirchenvater legt
noch so wenig Gewicht auf die Schrift, daß er meint, der christliche Glaube
wäre nicht gefährdet, wenn auch von den Aposteln keine Schriften vererbt
worden wären, da die apostolischen Schriften durch die Tradition ersetzt werden
könnten. So sehr überwog damals noch die lebendige Ueberlieferung. Erst in
dem Maße, als diese sich zu rrübcn oder zu erlöschen begann, als das Ver¬
lange» einer festeren Eonsiituirung der Kirche auch in dogmatischer Beziehung
erwachte und gegenüber den Ketzern eine wirksamere Waffe nöthig schien, als
die haltlose Berufung auf die Tradition, zeigte sich auch das Bedürfniß eines
geschlossenen Kreises schriftlicher Ueberlieferungen und zwar gesetzgebender, höchst
beglaubigter, von Gott eingegebener Glaubensurlündcn.

Dogmatische, kirchliche Motive waren es also, welche zum Abschluß des
Kanons führten. Dogmatische Motive waren es auch in der Regel, welche
den Schwankungen zu Grunde lagen, bevor der Kanon zum Abschluß kam.
Durchaus sehen wir die Kritik unter der Herrschaft der Dogmatik stehen. Nicht
die Kirchenlehre wird nach dein Kanonischen, sondern das Kanonische nach der
Kirchenlehre bemessen. Ein schlagendes Beispiel hierfür ist das Schicksal, wel¬
ches die Offenbarung des Johannes gehabt hat. Keine Schrift ist, selbst wenn
ihr hohes Alter nicht aus ihrem Inhalt sich erweisen ließe, durch bessere und
ältere Zeugnisse als Apostclschrift beglaubigt als diese. So weit sich die Spuren
der christlichen Literatur überhaupt zurückverfolgen lassen, treffen wir auf die
Offenbarung, und mit Papias, dem in der Kirchengeschichte des Eusebius er¬
wähnten Bischof von Hierapolis, der noch „ein Hörer des Johannes" war,
reichen die Zeugnisse bis in die Zeit des Apostels selbst hinauf. Allein in
dem Maße, als die schroff judenchristliche Denkweise, aus welcher diese fana¬
tische Zornesschnft heraus geschrieben ist, in der Kirche überwunden wurde,
nahm auch das Interesse an ihr ab. Je bedenklicher die Lehre vom tausend¬
jährigen Reich einer späteren Zeit erschien, um so verdächtiger wurde auch das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/251>, abgerufen am 17.06.2024.