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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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sehr wesentlichen und verdienstvollen Beitrag geliefert durch seine Untersuchung
über die Ansichten Jesu in Betreff der zukünftigen Dinge. Das Kapitel: "Hat
Jesus geglaubt, daß er nach dem Tode wiederkehren werde, um das wahre
messianische Reich zu gründen?" ist ein Meisterstück der Kritik. Die apokalyp¬
tischen Rede", welche die Evangelisten Jesus in den Mund legen, waren immer
ein mißlicher Punkt für den Biographen. Glauben zu sollen, daß Jesus selbst
seine Auferstehung und seine Wiederkunft auf den Wolken des Himmels zum
nahe bevorstehenden Weltgericht Vorausgesagt habe, war eine starke Zumuthung,
und doar schien nichts so sicher bezeugt zu sein als diese Reden. Zwar daß sie
in der uns überlieferten Form nicht echt sein können, lag wenigstens bei einem
Theil derselben nahe genug, nämlich bei denjenigen, unter welche die Tradition
Züge ans der Zerstörung von Jerusalem gemischt hat. Allein für die Haupt¬
sache war banni wenig gewonnen. Renan war der katholischen Tradition am
treuesten geblieben und hatte ans den Glauben Jesu an sein schwärmerisches
Wiederkommen >in Grund seine ganze dramatische Charakterentwicklung gebaut.
Baue schrieb zwar Jesus ein weltrichtcrliches Bewußtsein zu / "weil die Lehre,
nach deren Norm die Menschen gerichtet werden, seine Lehre ist," wies aber
den concreten sinnlichen Ausdruck in den Evangelien ab. Schleiermacher erklärte
den ganzen Gegenstand sür eine der schwersten Aufgaben, die man gar nicht
hoffen könne befriedigend zu lösen, gab aber deutlich zu verstehen, daß, was
Jesus von seiner Wiederkunft und vom Gericht sage, nicht buchstäblich, sondern
nur als Parabel genommen werden könne. sah enkei meint, Jesus könne wohl die
nunmehr beginnende Periode der christlichen Weltgemcinde als die Periode seiner
Zukunft, gleichsam seiner zweiten Ankunft auf Erden beschreiben. Dabei sei es
ganz natürlich, daß er sich der dem theokratischen Bvrstellungskreise geläufigen
Bildersprache bediente, aber ebenso natürlich sei, daß ihn die Jünger mißver¬
standen. Dagegen sagt Keim, nur in der Idee der Wiederkunft mit göttlicher
Glorie habe Jesus das glühende Mcssiasbewußtscin mit dem unerbittlichen
Todesschicksal ausgleichen können. Auch für Weizsäcker gehört es zu den ge¬
wissesten Bestandtheilen der Geschichte Jesu, daß er seine Wiederkunft mit dem
Himmelreich vorausgesagt habe. Allein das weiuichtcrliche Bewußtsein Jesu
saßt er doch nur wie Baue; eine Apokalypse der Zukunftsgeschichte habe Jesus
nicht gegeben, und die einzige Angabe, die man auf ihn selbst zurückführen dürfe,
sei die, daß das gegenwärtige Geschlecht die künftigen Dinge selbst noch erleben
werde. SNauß, der, wie immer, am umsichtigsten die Gründe für und wider
erörtert, wagt gar kein abschließendes Urtheil auszusprechen, doch scheint seine
Meinung eher die. daß es psychologisch undenkbar sei, Jesus jenen Glauben zu¬
zuschreiben. Neuerdings hat Zeller eine sinnreiche Hypothese aufgestellt. Die
Aorm der Zukunftsreden giebt er preis; allein wenn auch nur hypothetisch,
habe Jesus doch deuten müssen: falls ihm der Tod bestimmt sei, werde dies


sehr wesentlichen und verdienstvollen Beitrag geliefert durch seine Untersuchung
über die Ansichten Jesu in Betreff der zukünftigen Dinge. Das Kapitel: „Hat
Jesus geglaubt, daß er nach dem Tode wiederkehren werde, um das wahre
messianische Reich zu gründen?" ist ein Meisterstück der Kritik. Die apokalyp¬
tischen Rede», welche die Evangelisten Jesus in den Mund legen, waren immer
ein mißlicher Punkt für den Biographen. Glauben zu sollen, daß Jesus selbst
seine Auferstehung und seine Wiederkunft auf den Wolken des Himmels zum
nahe bevorstehenden Weltgericht Vorausgesagt habe, war eine starke Zumuthung,
und doar schien nichts so sicher bezeugt zu sein als diese Reden. Zwar daß sie
in der uns überlieferten Form nicht echt sein können, lag wenigstens bei einem
Theil derselben nahe genug, nämlich bei denjenigen, unter welche die Tradition
Züge ans der Zerstörung von Jerusalem gemischt hat. Allein für die Haupt¬
sache war banni wenig gewonnen. Renan war der katholischen Tradition am
treuesten geblieben und hatte ans den Glauben Jesu an sein schwärmerisches
Wiederkommen >in Grund seine ganze dramatische Charakterentwicklung gebaut.
Baue schrieb zwar Jesus ein weltrichtcrliches Bewußtsein zu / „weil die Lehre,
nach deren Norm die Menschen gerichtet werden, seine Lehre ist," wies aber
den concreten sinnlichen Ausdruck in den Evangelien ab. Schleiermacher erklärte
den ganzen Gegenstand sür eine der schwersten Aufgaben, die man gar nicht
hoffen könne befriedigend zu lösen, gab aber deutlich zu verstehen, daß, was
Jesus von seiner Wiederkunft und vom Gericht sage, nicht buchstäblich, sondern
nur als Parabel genommen werden könne. sah enkei meint, Jesus könne wohl die
nunmehr beginnende Periode der christlichen Weltgemcinde als die Periode seiner
Zukunft, gleichsam seiner zweiten Ankunft auf Erden beschreiben. Dabei sei es
ganz natürlich, daß er sich der dem theokratischen Bvrstellungskreise geläufigen
Bildersprache bediente, aber ebenso natürlich sei, daß ihn die Jünger mißver¬
standen. Dagegen sagt Keim, nur in der Idee der Wiederkunft mit göttlicher
Glorie habe Jesus das glühende Mcssiasbewußtscin mit dem unerbittlichen
Todesschicksal ausgleichen können. Auch für Weizsäcker gehört es zu den ge¬
wissesten Bestandtheilen der Geschichte Jesu, daß er seine Wiederkunft mit dem
Himmelreich vorausgesagt habe. Allein das weiuichtcrliche Bewußtsein Jesu
saßt er doch nur wie Baue; eine Apokalypse der Zukunftsgeschichte habe Jesus
nicht gegeben, und die einzige Angabe, die man auf ihn selbst zurückführen dürfe,
sei die, daß das gegenwärtige Geschlecht die künftigen Dinge selbst noch erleben
werde. SNauß, der, wie immer, am umsichtigsten die Gründe für und wider
erörtert, wagt gar kein abschließendes Urtheil auszusprechen, doch scheint seine
Meinung eher die. daß es psychologisch undenkbar sei, Jesus jenen Glauben zu¬
zuschreiben. Neuerdings hat Zeller eine sinnreiche Hypothese aufgestellt. Die
Aorm der Zukunftsreden giebt er preis; allein wenn auch nur hypothetisch,
habe Jesus doch deuten müssen: falls ihm der Tod bestimmt sei, werde dies


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[0148] sehr wesentlichen und verdienstvollen Beitrag geliefert durch seine Untersuchung über die Ansichten Jesu in Betreff der zukünftigen Dinge. Das Kapitel: „Hat Jesus geglaubt, daß er nach dem Tode wiederkehren werde, um das wahre messianische Reich zu gründen?" ist ein Meisterstück der Kritik. Die apokalyp¬ tischen Rede», welche die Evangelisten Jesus in den Mund legen, waren immer ein mißlicher Punkt für den Biographen. Glauben zu sollen, daß Jesus selbst seine Auferstehung und seine Wiederkunft auf den Wolken des Himmels zum nahe bevorstehenden Weltgericht Vorausgesagt habe, war eine starke Zumuthung, und doar schien nichts so sicher bezeugt zu sein als diese Reden. Zwar daß sie in der uns überlieferten Form nicht echt sein können, lag wenigstens bei einem Theil derselben nahe genug, nämlich bei denjenigen, unter welche die Tradition Züge ans der Zerstörung von Jerusalem gemischt hat. Allein für die Haupt¬ sache war banni wenig gewonnen. Renan war der katholischen Tradition am treuesten geblieben und hatte ans den Glauben Jesu an sein schwärmerisches Wiederkommen >in Grund seine ganze dramatische Charakterentwicklung gebaut. Baue schrieb zwar Jesus ein weltrichtcrliches Bewußtsein zu / „weil die Lehre, nach deren Norm die Menschen gerichtet werden, seine Lehre ist," wies aber den concreten sinnlichen Ausdruck in den Evangelien ab. Schleiermacher erklärte den ganzen Gegenstand sür eine der schwersten Aufgaben, die man gar nicht hoffen könne befriedigend zu lösen, gab aber deutlich zu verstehen, daß, was Jesus von seiner Wiederkunft und vom Gericht sage, nicht buchstäblich, sondern nur als Parabel genommen werden könne. sah enkei meint, Jesus könne wohl die nunmehr beginnende Periode der christlichen Weltgemcinde als die Periode seiner Zukunft, gleichsam seiner zweiten Ankunft auf Erden beschreiben. Dabei sei es ganz natürlich, daß er sich der dem theokratischen Bvrstellungskreise geläufigen Bildersprache bediente, aber ebenso natürlich sei, daß ihn die Jünger mißver¬ standen. Dagegen sagt Keim, nur in der Idee der Wiederkunft mit göttlicher Glorie habe Jesus das glühende Mcssiasbewußtscin mit dem unerbittlichen Todesschicksal ausgleichen können. Auch für Weizsäcker gehört es zu den ge¬ wissesten Bestandtheilen der Geschichte Jesu, daß er seine Wiederkunft mit dem Himmelreich vorausgesagt habe. Allein das weiuichtcrliche Bewußtsein Jesu saßt er doch nur wie Baue; eine Apokalypse der Zukunftsgeschichte habe Jesus nicht gegeben, und die einzige Angabe, die man auf ihn selbst zurückführen dürfe, sei die, daß das gegenwärtige Geschlecht die künftigen Dinge selbst noch erleben werde. SNauß, der, wie immer, am umsichtigsten die Gründe für und wider erörtert, wagt gar kein abschließendes Urtheil auszusprechen, doch scheint seine Meinung eher die. daß es psychologisch undenkbar sei, Jesus jenen Glauben zu¬ zuschreiben. Neuerdings hat Zeller eine sinnreiche Hypothese aufgestellt. Die Aorm der Zukunftsreden giebt er preis; allein wenn auch nur hypothetisch, habe Jesus doch deuten müssen: falls ihm der Tod bestimmt sei, werde dies

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/148>, abgerufen am 05.06.2024.