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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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geführten Falle mit Winkelried Beispiele freisprechender Erkenntniß haben, die
dann nicht minder anerkannt werden. Es scheint also doch Wohl eine in der
wissenschaftlichen Welt überall empfundene und respectirte Grenzlinie vorhanden
zu sein, welche das Glaubwürdige von dem Fabelhaften scheidet. Und nicht
minder sehen wir jenen zweiten Vorwurf einer durch die Kritik hervorgebrachten
Verarmung der Geschichte thatsächlich auf das Glänzendste widerlegt. Jener
mächtige Fortschritt der Wissenschaft, welcher eben an die kritische Richtung an¬
knüpft, hat nicht nur eine gewaltige Vertiefung des Studiums, sondern auch
überall eine gradezu überraschende Vermehrung des historischen Materials her¬
beigeführt, welche an die Stelle der oft sehr schlecht unterrichteten späteren Chro¬
nisten, auf die man sich bisher verließ, eine Fülle lebendiger gleichzeitiger Zeug¬
nisse setzte.

Weniger leicht zu entkräften ist ein anderer Vorwurf, daß mit jenen Sagen
und Charakterzügen ein guter Theil Poesie aus der Geschichte verschwinde. Wir
sind ganz darauf gefaßt, daß nächstens einmal jemand die Klage um diese dis-
creditirten Sagen etwa im Tone der Götter Griechenlands von Schiller in
Verse bringt und die Worte des Dichters:

aufs Neue anwendet. Man könnte sich einen solchen Versuch als ganz wohl¬
gelungen denken, aber daß es dem Verfasser rechter Ernst damit wäre, würden
wir kaum glauben. Denn so wenig wir annehmen werden, daß Schiller im
Ernst es bedauert haben sollte, nicht mehrz in der Lage zu sein, an der
Bekränzung der Altäre der Venus Amathusia persönlich theilzunehmen, oder
dem Helios sein Morgengebet zu verrichten, ebenso wenig würden wir es für
möglich halten, daß jemand sich von dem Werk eines Ranke, Sybel. Mommsen
zu den Anekdotenfundgruben der alten Zeit, einem Bredow oder Rohheit zurück¬
sehnte. Außerdem gilt' ja das schöne Schlußwort des Schillerschen Gedichtes
auch für unseren Fall:

Auch jene aus der Geschichte verbannte Mythen sind ja nicht verloren,
sie leben ja gleichfalls gerettet im Bereiche der Dichtung, die nach wie vor
aus ihnen ihre Stoffe zu wählen vermag. Denn wahrlich, es wäre doch sehr
thöricht, sich die Freude an den uhlandschen Rolandballaden auch nur zum
kleinsten Theile durch die Erinnerung an das Unhistorische jener Stoffe beein¬
trächtigt zu denken, und ebenso wenig ist es jemandem eingefallen, eine Herab¬
setzung des Schillerschen Don Carlos darin zu erblicken, wenn neuere For-


geführten Falle mit Winkelried Beispiele freisprechender Erkenntniß haben, die
dann nicht minder anerkannt werden. Es scheint also doch Wohl eine in der
wissenschaftlichen Welt überall empfundene und respectirte Grenzlinie vorhanden
zu sein, welche das Glaubwürdige von dem Fabelhaften scheidet. Und nicht
minder sehen wir jenen zweiten Vorwurf einer durch die Kritik hervorgebrachten
Verarmung der Geschichte thatsächlich auf das Glänzendste widerlegt. Jener
mächtige Fortschritt der Wissenschaft, welcher eben an die kritische Richtung an¬
knüpft, hat nicht nur eine gewaltige Vertiefung des Studiums, sondern auch
überall eine gradezu überraschende Vermehrung des historischen Materials her¬
beigeführt, welche an die Stelle der oft sehr schlecht unterrichteten späteren Chro¬
nisten, auf die man sich bisher verließ, eine Fülle lebendiger gleichzeitiger Zeug¬
nisse setzte.

Weniger leicht zu entkräften ist ein anderer Vorwurf, daß mit jenen Sagen
und Charakterzügen ein guter Theil Poesie aus der Geschichte verschwinde. Wir
sind ganz darauf gefaßt, daß nächstens einmal jemand die Klage um diese dis-
creditirten Sagen etwa im Tone der Götter Griechenlands von Schiller in
Verse bringt und die Worte des Dichters:

aufs Neue anwendet. Man könnte sich einen solchen Versuch als ganz wohl¬
gelungen denken, aber daß es dem Verfasser rechter Ernst damit wäre, würden
wir kaum glauben. Denn so wenig wir annehmen werden, daß Schiller im
Ernst es bedauert haben sollte, nicht mehrz in der Lage zu sein, an der
Bekränzung der Altäre der Venus Amathusia persönlich theilzunehmen, oder
dem Helios sein Morgengebet zu verrichten, ebenso wenig würden wir es für
möglich halten, daß jemand sich von dem Werk eines Ranke, Sybel. Mommsen
zu den Anekdotenfundgruben der alten Zeit, einem Bredow oder Rohheit zurück¬
sehnte. Außerdem gilt' ja das schöne Schlußwort des Schillerschen Gedichtes
auch für unseren Fall:

Auch jene aus der Geschichte verbannte Mythen sind ja nicht verloren,
sie leben ja gleichfalls gerettet im Bereiche der Dichtung, die nach wie vor
aus ihnen ihre Stoffe zu wählen vermag. Denn wahrlich, es wäre doch sehr
thöricht, sich die Freude an den uhlandschen Rolandballaden auch nur zum
kleinsten Theile durch die Erinnerung an das Unhistorische jener Stoffe beein¬
trächtigt zu denken, und ebenso wenig ist es jemandem eingefallen, eine Herab¬
setzung des Schillerschen Don Carlos darin zu erblicken, wenn neuere For-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/18>, abgerufen am 17.06.2024.