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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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schungen uns aus bester Quelle überzeugt haben, der spanische Infant sei
in Wahrheit eine so durch und durch verwahrloste, ungesunde, verkrüppelte
Persönlichkeit gewesen, daß selbst sein klägliches Ende kaum unsere Theilnahme
erregen kann.

Ja die Dichter haben nicht einmal nöthig, auf die historische Treue zu
verzichten, wenn sie gleich zu Stoffen jener Gattung greifen. Denn wie viel
auch in der Fabel des Schillerschen Wallenstein unhistorisch ist, so verdient doch
das ganze Werk im vollsten Sinne den Namen eines historischen, das Bild
jener schweren Zeit, welches es vor uns aufrollt, ist von ganz unübertrefflicher
Wahrheit. Wenn in Kleists Drama: "Der Prinz von Homburg" der ganze
Hergang, auf dem das Stück basirt, von der Geschichte geläugnet wird, so wird
doch auch der Historiker gegen die Schilderung des großen Kurfürsten und seiner
Umgebung wenig einzuwenden finden.

Aber wie gern wir auch zugeben, daß die Sage an sich poetischer ist, als
die Geschichte, so müßten wir es doch in der That für schweres Unrecht halten,
wollte man verlangen, daß der Historiker, der vor allem nach Wahrheit streben
soll, sich gefallsüchtig mit den Schleiern der Dichtung drappire.

Wer einen poetischen Reiz in der Geschichte sucht, der möge ihn in der
lebendigen Kraft der Darstellung finden, welche uns vergangene Zeiten in vollem
warmen Bilde wie gegenwartig vor die erschütterte Seele führt, wer aber bei
der Darstellung der römischen Parteikämpfe vor den licinischen Gesetzen in
Mommsens Meisterwerke die Anekdote des Livius vermißt, welche das gro߬
artige Ereigniß, das jene abschließt, von der kleinlichen Eitelkeit eines Weibes
ableitet, oder wer, wenn er in Sybels ergreifender Darstellung das lawinen¬
artige Anwachsen der revolutionären Bewegung in Frankreich verfolgt, über
den Mangel an poetischer Stimmung zu klagen hat und sich nach den Anek¬
doten und Bonmots umsieht, mit denen uns die französischen Darsteller jener
Epoche abzuspeisen pflegten, nun für dessen geschichtliches Bedürfniß dürften
wohl die sogenannten historischen Romane, an denen unsere Zeit so fruchtbar
ist, vollkommen ausreichen.

Wir dürfen es nicht verschweigen, daß grade 'die Meister moderner Ge¬
schichtschreibung überhaupt sich äußerst spröde gegen diese Gattung von
Anekdoten und Charakterzüge verhalten, daß sie bei weitem nicht bis an die
Grenzlinien vorzugehen Pflegen, welche die historische Kritik gezogen, und daß
eine große Anzahl von Geschichtchen. welche eigentlich nie in Untersuchung ge-
Wesen, geschweige denn verurtheilt worden sind, sichtlich gemieden werden, wie
charakteristisch sie auch sein mögen. Und doch wird schwerlich jemand unserer
modernen Geschichtschreibung den Vorwurf machen, daß sie uns ausschließlich
mit allgemeinen philosophischen Ideen abspeise. Im Gegentheil macht sich
die realistische Tendenz, welche man ja allgemein unserer Zeit zuschreibt, auch


schungen uns aus bester Quelle überzeugt haben, der spanische Infant sei
in Wahrheit eine so durch und durch verwahrloste, ungesunde, verkrüppelte
Persönlichkeit gewesen, daß selbst sein klägliches Ende kaum unsere Theilnahme
erregen kann.

Ja die Dichter haben nicht einmal nöthig, auf die historische Treue zu
verzichten, wenn sie gleich zu Stoffen jener Gattung greifen. Denn wie viel
auch in der Fabel des Schillerschen Wallenstein unhistorisch ist, so verdient doch
das ganze Werk im vollsten Sinne den Namen eines historischen, das Bild
jener schweren Zeit, welches es vor uns aufrollt, ist von ganz unübertrefflicher
Wahrheit. Wenn in Kleists Drama: „Der Prinz von Homburg" der ganze
Hergang, auf dem das Stück basirt, von der Geschichte geläugnet wird, so wird
doch auch der Historiker gegen die Schilderung des großen Kurfürsten und seiner
Umgebung wenig einzuwenden finden.

Aber wie gern wir auch zugeben, daß die Sage an sich poetischer ist, als
die Geschichte, so müßten wir es doch in der That für schweres Unrecht halten,
wollte man verlangen, daß der Historiker, der vor allem nach Wahrheit streben
soll, sich gefallsüchtig mit den Schleiern der Dichtung drappire.

Wer einen poetischen Reiz in der Geschichte sucht, der möge ihn in der
lebendigen Kraft der Darstellung finden, welche uns vergangene Zeiten in vollem
warmen Bilde wie gegenwartig vor die erschütterte Seele führt, wer aber bei
der Darstellung der römischen Parteikämpfe vor den licinischen Gesetzen in
Mommsens Meisterwerke die Anekdote des Livius vermißt, welche das gro߬
artige Ereigniß, das jene abschließt, von der kleinlichen Eitelkeit eines Weibes
ableitet, oder wer, wenn er in Sybels ergreifender Darstellung das lawinen¬
artige Anwachsen der revolutionären Bewegung in Frankreich verfolgt, über
den Mangel an poetischer Stimmung zu klagen hat und sich nach den Anek¬
doten und Bonmots umsieht, mit denen uns die französischen Darsteller jener
Epoche abzuspeisen pflegten, nun für dessen geschichtliches Bedürfniß dürften
wohl die sogenannten historischen Romane, an denen unsere Zeit so fruchtbar
ist, vollkommen ausreichen.

Wir dürfen es nicht verschweigen, daß grade 'die Meister moderner Ge¬
schichtschreibung überhaupt sich äußerst spröde gegen diese Gattung von
Anekdoten und Charakterzüge verhalten, daß sie bei weitem nicht bis an die
Grenzlinien vorzugehen Pflegen, welche die historische Kritik gezogen, und daß
eine große Anzahl von Geschichtchen. welche eigentlich nie in Untersuchung ge-
Wesen, geschweige denn verurtheilt worden sind, sichtlich gemieden werden, wie
charakteristisch sie auch sein mögen. Und doch wird schwerlich jemand unserer
modernen Geschichtschreibung den Vorwurf machen, daß sie uns ausschließlich
mit allgemeinen philosophischen Ideen abspeise. Im Gegentheil macht sich
die realistische Tendenz, welche man ja allgemein unserer Zeit zuschreibt, auch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/19>, abgerufen am 17.06.2024.