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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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der Sache bestellten Beamten oder durch einen Privatmann die Anklagemate-
ralien gesammelt, und wenn die Anklage zugelassen ist, muß Ankläger seine Be¬
hauptungen beweisen, die Verhandlung zwischen ihm und dem Angeklagten wird
auf Grund einer bestimmten Anklage geführt, welche auch Zielpunkt der Ent¬
scheidung ist. Jedes dieser Principien bestimmt alle Theile des Verfahrens,
die Eröffnung, die Beamten, die Stellung des Inquirenten, des Beschuldigten
(Beschuldigung und Beweise werden ihm offen dargelegt oder nicht), Form und
Charakter der Verhandlung, die Ausdehnung des Verfahrens, die Urtheilsfällung.

Bei jedem Volke kommt anfangs nur der Antlageproceß vor, im Zu¬
sammenhange mit den Culturverhältnissen, den Ansichten von Strafe. Ent¬
wickelt sich mehr das öffentliche Interesse an der Verfolgung der Verbrechen,
erscheint es gefährlich, diese von der Privatanklage abhängen zu lassen, so
keimen allmälig inquisitorische Elemente im Strafverfahren. Gleichgiltigkeit,
Furcht vor Mühe, vor Kosten, vor Rache bestärken das Jnquisitionsprincip.
In England hielt es der Zwang zur Anklage fern, sodann der gleichzeitig
fungirende öffentliche Ankläger, die gute Polizei, die zur Verfolgung ge¬
gründeten öffentlichen Anstalten und Vereine. In Deutschland dagegen, wo
diese Momente nicht genügend zur Geltung kamen, gewann seit dem sechzehnten
Jahrhundert das Jnquisitionsverfahren besondere Stärke durch die Carolina,
das gewaltig durchgreifende Strafgesetz Karls des Fünften. Die Schöffen wur-
den allmälig nur Beisitzer des Richters. die Richttage dienten nur zur Verkün¬
dung des Urtheils ohne weitere Verhandlung. Mit dem langsamen Hinschwin¬
den der Folter, auf welche die Carolina gegründet war, gewann die Willkür
des einzelnen, von Geschäften überhäuften Gerichtsbeamten gefährliche Kraft;
die Processe dauerten erschrecklich lange, mit ihnen die unter dem Einflüsse der
Polizei weit geübte Untersuchungshaft; denn der Verdächtige sollte -- ein Stolz
für die Kunst, oft für die List des Inquirenten -- ohne physischen Folterzwang
gestehen; die Ungehorsamsstrafen, die ewige Angst des Beschuldigten, seine Wider¬
sprüche. Unwahrheiten, Widerrufe folterten ihn geistig schrecklicher, als die kör-
Perlichen Martern; die schriftlichen Verhandlungen und ihre Acten gaben nur
ein mittelbares unklares Bild, vor der Entscheidung mußten daher zeitraubende
Ergänzungen der bisherigen Verhandlungen kümmerlich aushelfen, wo das
mündliche Verfahren allein gründlich bessern konnte. Eine Vertheidigung war
ganz ausgeschlossen, oder erheblich beeinträchtigt dadurch, daß eine Anklage, also
der wichtige Angriffspunkt sehlte; der Vertheidiger hatte keinen Einfluß auf die
Benutzung der Beweismittel, ja es war ungewiß, ob die Verteidigungsschrift
vor den Richter gelangte. Die gesetzliche Beweistheorie war in feste Schranken
eingehegt, welche sie zu eng und zu weit machten.

Noch schlimmer gestaltet sich das Bild dieses Jnquisitionsprocesses, welcher
bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mehr oder weniger modificirt


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der Sache bestellten Beamten oder durch einen Privatmann die Anklagemate-
ralien gesammelt, und wenn die Anklage zugelassen ist, muß Ankläger seine Be¬
hauptungen beweisen, die Verhandlung zwischen ihm und dem Angeklagten wird
auf Grund einer bestimmten Anklage geführt, welche auch Zielpunkt der Ent¬
scheidung ist. Jedes dieser Principien bestimmt alle Theile des Verfahrens,
die Eröffnung, die Beamten, die Stellung des Inquirenten, des Beschuldigten
(Beschuldigung und Beweise werden ihm offen dargelegt oder nicht), Form und
Charakter der Verhandlung, die Ausdehnung des Verfahrens, die Urtheilsfällung.

Bei jedem Volke kommt anfangs nur der Antlageproceß vor, im Zu¬
sammenhange mit den Culturverhältnissen, den Ansichten von Strafe. Ent¬
wickelt sich mehr das öffentliche Interesse an der Verfolgung der Verbrechen,
erscheint es gefährlich, diese von der Privatanklage abhängen zu lassen, so
keimen allmälig inquisitorische Elemente im Strafverfahren. Gleichgiltigkeit,
Furcht vor Mühe, vor Kosten, vor Rache bestärken das Jnquisitionsprincip.
In England hielt es der Zwang zur Anklage fern, sodann der gleichzeitig
fungirende öffentliche Ankläger, die gute Polizei, die zur Verfolgung ge¬
gründeten öffentlichen Anstalten und Vereine. In Deutschland dagegen, wo
diese Momente nicht genügend zur Geltung kamen, gewann seit dem sechzehnten
Jahrhundert das Jnquisitionsverfahren besondere Stärke durch die Carolina,
das gewaltig durchgreifende Strafgesetz Karls des Fünften. Die Schöffen wur-
den allmälig nur Beisitzer des Richters. die Richttage dienten nur zur Verkün¬
dung des Urtheils ohne weitere Verhandlung. Mit dem langsamen Hinschwin¬
den der Folter, auf welche die Carolina gegründet war, gewann die Willkür
des einzelnen, von Geschäften überhäuften Gerichtsbeamten gefährliche Kraft;
die Processe dauerten erschrecklich lange, mit ihnen die unter dem Einflüsse der
Polizei weit geübte Untersuchungshaft; denn der Verdächtige sollte — ein Stolz
für die Kunst, oft für die List des Inquirenten — ohne physischen Folterzwang
gestehen; die Ungehorsamsstrafen, die ewige Angst des Beschuldigten, seine Wider¬
sprüche. Unwahrheiten, Widerrufe folterten ihn geistig schrecklicher, als die kör-
Perlichen Martern; die schriftlichen Verhandlungen und ihre Acten gaben nur
ein mittelbares unklares Bild, vor der Entscheidung mußten daher zeitraubende
Ergänzungen der bisherigen Verhandlungen kümmerlich aushelfen, wo das
mündliche Verfahren allein gründlich bessern konnte. Eine Vertheidigung war
ganz ausgeschlossen, oder erheblich beeinträchtigt dadurch, daß eine Anklage, also
der wichtige Angriffspunkt sehlte; der Vertheidiger hatte keinen Einfluß auf die
Benutzung der Beweismittel, ja es war ungewiß, ob die Verteidigungsschrift
vor den Richter gelangte. Die gesetzliche Beweistheorie war in feste Schranken
eingehegt, welche sie zu eng und zu weit machten.

Noch schlimmer gestaltet sich das Bild dieses Jnquisitionsprocesses, welcher
bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mehr oder weniger modificirt


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[0023] der Sache bestellten Beamten oder durch einen Privatmann die Anklagemate- ralien gesammelt, und wenn die Anklage zugelassen ist, muß Ankläger seine Be¬ hauptungen beweisen, die Verhandlung zwischen ihm und dem Angeklagten wird auf Grund einer bestimmten Anklage geführt, welche auch Zielpunkt der Ent¬ scheidung ist. Jedes dieser Principien bestimmt alle Theile des Verfahrens, die Eröffnung, die Beamten, die Stellung des Inquirenten, des Beschuldigten (Beschuldigung und Beweise werden ihm offen dargelegt oder nicht), Form und Charakter der Verhandlung, die Ausdehnung des Verfahrens, die Urtheilsfällung. Bei jedem Volke kommt anfangs nur der Antlageproceß vor, im Zu¬ sammenhange mit den Culturverhältnissen, den Ansichten von Strafe. Ent¬ wickelt sich mehr das öffentliche Interesse an der Verfolgung der Verbrechen, erscheint es gefährlich, diese von der Privatanklage abhängen zu lassen, so keimen allmälig inquisitorische Elemente im Strafverfahren. Gleichgiltigkeit, Furcht vor Mühe, vor Kosten, vor Rache bestärken das Jnquisitionsprincip. In England hielt es der Zwang zur Anklage fern, sodann der gleichzeitig fungirende öffentliche Ankläger, die gute Polizei, die zur Verfolgung ge¬ gründeten öffentlichen Anstalten und Vereine. In Deutschland dagegen, wo diese Momente nicht genügend zur Geltung kamen, gewann seit dem sechzehnten Jahrhundert das Jnquisitionsverfahren besondere Stärke durch die Carolina, das gewaltig durchgreifende Strafgesetz Karls des Fünften. Die Schöffen wur- den allmälig nur Beisitzer des Richters. die Richttage dienten nur zur Verkün¬ dung des Urtheils ohne weitere Verhandlung. Mit dem langsamen Hinschwin¬ den der Folter, auf welche die Carolina gegründet war, gewann die Willkür des einzelnen, von Geschäften überhäuften Gerichtsbeamten gefährliche Kraft; die Processe dauerten erschrecklich lange, mit ihnen die unter dem Einflüsse der Polizei weit geübte Untersuchungshaft; denn der Verdächtige sollte — ein Stolz für die Kunst, oft für die List des Inquirenten — ohne physischen Folterzwang gestehen; die Ungehorsamsstrafen, die ewige Angst des Beschuldigten, seine Wider¬ sprüche. Unwahrheiten, Widerrufe folterten ihn geistig schrecklicher, als die kör- Perlichen Martern; die schriftlichen Verhandlungen und ihre Acten gaben nur ein mittelbares unklares Bild, vor der Entscheidung mußten daher zeitraubende Ergänzungen der bisherigen Verhandlungen kümmerlich aushelfen, wo das mündliche Verfahren allein gründlich bessern konnte. Eine Vertheidigung war ganz ausgeschlossen, oder erheblich beeinträchtigt dadurch, daß eine Anklage, also der wichtige Angriffspunkt sehlte; der Vertheidiger hatte keinen Einfluß auf die Benutzung der Beweismittel, ja es war ungewiß, ob die Verteidigungsschrift vor den Richter gelangte. Die gesetzliche Beweistheorie war in feste Schranken eingehegt, welche sie zu eng und zu weit machten. Noch schlimmer gestaltet sich das Bild dieses Jnquisitionsprocesses, welcher bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mehr oder weniger modificirt Gmijbvleu U. 18os. 3

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/23>, abgerufen am 17.06.2024.