Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

unser Deutschland bedrückte, dort, wo der allein die Untersuchung führende
Richter selbst das Urtheil sprach; da fehlt alle Unparteilichkeit, alle Gleichheit
zwischen Ankläger und Beklagten, der Richter und Ankläger in einer Person
muß den Proceß durchführen und den Verdächtigen verurtheilen, weil der Pro¬
ceß einmal begann.

Mitten in diese Misere, welche zumal für die Wehrlosigkeit der vielen po¬
litisch Verfolgten keines erklärenden Zusatzes bedarf, traf das Gewitter von
1848. Fort, hieß es, mit dem alten Strafproceß; wir brauchen den Anklage-
Proceß, wie er in Frankreich ist. So erklärten denn die neuen Grundrechte
und Verfassungsurtunden Deutschlands, künftig sollte der Anklageproceß gelten.
Was indeß darunter zu verstehen, darüber war man keineswegs einig, man wußte
z. B. nicht, ob der bei dem Processe fungirende Staatsanwalt den Proceß zu
einem Anklagcproceß mache, oder ihn Jnquisitionsproceß bleiben lasse. Beson¬
ders hielt man Anklagcprincip und -form für gleichbedeutend und glaubte durch
letztere den öffentlichen Forderungen zu genügen. Hierdurch erklärt sich die
Gestaltung des Strasprocesscs seit 1848 in Deutschland. Zwei Perioden müssen
hier unterschieden werden.

Die Zeit von 1848 bis 1849 wird dadurch charakterisirt, daß die Gesetze
in den einzelnen deutschen Staaten den Strafproceß ohne Hintergedanken auf
den -- theilweise nur mißverstandenen -- Grundlagen des französischen Ver-
fahrens aufführten. Hierzu gehören einmal die Gesetze, welche mündliches Ver¬
fahren, Anklageprvceß, Schwurgerichte erstrebten, ohne doch ihre Strafproceß-
oidnungen vollständig zu refvrnmen, so daß zunächst nur das Verfahren in der
Hauptverhandlung geordnet werden, im Uebrigen die alte Proceßordnung fort¬
bestehen sollte. Der Art sind die Gesetze von Bayern, Hessen, Nassau von 1848,
die preußische sogenannte "Verordnung", eigentlich das Gesetz vom 3. Januar
1849, das von Baden vom 19. Februar 1849. Sodann fallen in dieselbe
Periode diejenigen Gesetze, welche völlig neue Strafproceßordnungen einführten,
so in Braunschweig vom 22. August 1849, in Hannover vom 8. November
1850 und in den thüringischen Ländern vom 20. Mai 1850.

Seit 1850 beginnt die zweite Periode. Man widerstrebt Seitens der deut¬
schen Regierungen den Schwurgerichten und sucht die im Allgemeinen anerkann¬
ten Grundsätze des neuen Strafverfahrens doch aus politischen Rücksichten mög¬
lichst zu beschränken. Dahin gehören einmal die Gesetze, in welchen unter Er¬
gänzung der Gesetzgebung von 1848 die Ideen im Sinne der neuen poli¬
tischen Richtung modificirt wurden;' so das preußische Gesetz vom 3. Mai 1852,
eine Revision des Gesetzes von 1848, hervorgegangen aus den bekannten Poli¬
tischen Parteikämpfen jener preußischen Aera, ferner das badische Gesetz vom
5. Februar 1851, welches ebenfalls das Gesetz von 1849 unter argen Incon-
sequenzen in der Stellung des Staatsanwalts gegenüber dem alten Inquisitions-


unser Deutschland bedrückte, dort, wo der allein die Untersuchung führende
Richter selbst das Urtheil sprach; da fehlt alle Unparteilichkeit, alle Gleichheit
zwischen Ankläger und Beklagten, der Richter und Ankläger in einer Person
muß den Proceß durchführen und den Verdächtigen verurtheilen, weil der Pro¬
ceß einmal begann.

Mitten in diese Misere, welche zumal für die Wehrlosigkeit der vielen po¬
litisch Verfolgten keines erklärenden Zusatzes bedarf, traf das Gewitter von
1848. Fort, hieß es, mit dem alten Strafproceß; wir brauchen den Anklage-
Proceß, wie er in Frankreich ist. So erklärten denn die neuen Grundrechte
und Verfassungsurtunden Deutschlands, künftig sollte der Anklageproceß gelten.
Was indeß darunter zu verstehen, darüber war man keineswegs einig, man wußte
z. B. nicht, ob der bei dem Processe fungirende Staatsanwalt den Proceß zu
einem Anklagcproceß mache, oder ihn Jnquisitionsproceß bleiben lasse. Beson¬
ders hielt man Anklagcprincip und -form für gleichbedeutend und glaubte durch
letztere den öffentlichen Forderungen zu genügen. Hierdurch erklärt sich die
Gestaltung des Strasprocesscs seit 1848 in Deutschland. Zwei Perioden müssen
hier unterschieden werden.

Die Zeit von 1848 bis 1849 wird dadurch charakterisirt, daß die Gesetze
in den einzelnen deutschen Staaten den Strafproceß ohne Hintergedanken auf
den — theilweise nur mißverstandenen — Grundlagen des französischen Ver-
fahrens aufführten. Hierzu gehören einmal die Gesetze, welche mündliches Ver¬
fahren, Anklageprvceß, Schwurgerichte erstrebten, ohne doch ihre Strafproceß-
oidnungen vollständig zu refvrnmen, so daß zunächst nur das Verfahren in der
Hauptverhandlung geordnet werden, im Uebrigen die alte Proceßordnung fort¬
bestehen sollte. Der Art sind die Gesetze von Bayern, Hessen, Nassau von 1848,
die preußische sogenannte „Verordnung", eigentlich das Gesetz vom 3. Januar
1849, das von Baden vom 19. Februar 1849. Sodann fallen in dieselbe
Periode diejenigen Gesetze, welche völlig neue Strafproceßordnungen einführten,
so in Braunschweig vom 22. August 1849, in Hannover vom 8. November
1850 und in den thüringischen Ländern vom 20. Mai 1850.

Seit 1850 beginnt die zweite Periode. Man widerstrebt Seitens der deut¬
schen Regierungen den Schwurgerichten und sucht die im Allgemeinen anerkann¬
ten Grundsätze des neuen Strafverfahrens doch aus politischen Rücksichten mög¬
lichst zu beschränken. Dahin gehören einmal die Gesetze, in welchen unter Er¬
gänzung der Gesetzgebung von 1848 die Ideen im Sinne der neuen poli¬
tischen Richtung modificirt wurden;' so das preußische Gesetz vom 3. Mai 1852,
eine Revision des Gesetzes von 1848, hervorgegangen aus den bekannten Poli¬
tischen Parteikämpfen jener preußischen Aera, ferner das badische Gesetz vom
5. Februar 1851, welches ebenfalls das Gesetz von 1849 unter argen Incon-
sequenzen in der Stellung des Staatsanwalts gegenüber dem alten Inquisitions-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0024" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/282821"/>
          <p xml:id="ID_61" prev="#ID_60"> unser Deutschland bedrückte, dort, wo der allein die Untersuchung führende<lb/>
Richter selbst das Urtheil sprach; da fehlt alle Unparteilichkeit, alle Gleichheit<lb/>
zwischen Ankläger und Beklagten, der Richter und Ankläger in einer Person<lb/>
muß den Proceß durchführen und den Verdächtigen verurtheilen, weil der Pro¬<lb/>
ceß einmal begann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_62"> Mitten in diese Misere, welche zumal für die Wehrlosigkeit der vielen po¬<lb/>
litisch Verfolgten keines erklärenden Zusatzes bedarf, traf das Gewitter von<lb/>
1848. Fort, hieß es, mit dem alten Strafproceß; wir brauchen den Anklage-<lb/>
Proceß, wie er in Frankreich ist. So erklärten denn die neuen Grundrechte<lb/>
und Verfassungsurtunden Deutschlands, künftig sollte der Anklageproceß gelten.<lb/>
Was indeß darunter zu verstehen, darüber war man keineswegs einig, man wußte<lb/>
z. B. nicht, ob der bei dem Processe fungirende Staatsanwalt den Proceß zu<lb/>
einem Anklagcproceß mache, oder ihn Jnquisitionsproceß bleiben lasse. Beson¬<lb/>
ders hielt man Anklagcprincip und -form für gleichbedeutend und glaubte durch<lb/>
letztere den öffentlichen Forderungen zu genügen. Hierdurch erklärt sich die<lb/>
Gestaltung des Strasprocesscs seit 1848 in Deutschland. Zwei Perioden müssen<lb/>
hier unterschieden werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_63"> Die Zeit von 1848 bis 1849 wird dadurch charakterisirt, daß die Gesetze<lb/>
in den einzelnen deutschen Staaten den Strafproceß ohne Hintergedanken auf<lb/>
den &#x2014; theilweise nur mißverstandenen &#x2014; Grundlagen des französischen Ver-<lb/>
fahrens aufführten. Hierzu gehören einmal die Gesetze, welche mündliches Ver¬<lb/>
fahren, Anklageprvceß, Schwurgerichte erstrebten, ohne doch ihre Strafproceß-<lb/>
oidnungen vollständig zu refvrnmen, so daß zunächst nur das Verfahren in der<lb/>
Hauptverhandlung geordnet werden, im Uebrigen die alte Proceßordnung fort¬<lb/>
bestehen sollte. Der Art sind die Gesetze von Bayern, Hessen, Nassau von 1848,<lb/>
die preußische sogenannte &#x201E;Verordnung", eigentlich das Gesetz vom 3. Januar<lb/>
1849, das von Baden vom 19. Februar 1849. Sodann fallen in dieselbe<lb/>
Periode diejenigen Gesetze, welche völlig neue Strafproceßordnungen einführten,<lb/>
so in Braunschweig vom 22. August 1849, in Hannover vom 8. November<lb/>
1850 und in den thüringischen Ländern vom 20. Mai 1850.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_64" next="#ID_65"> Seit 1850 beginnt die zweite Periode. Man widerstrebt Seitens der deut¬<lb/>
schen Regierungen den Schwurgerichten und sucht die im Allgemeinen anerkann¬<lb/>
ten Grundsätze des neuen Strafverfahrens doch aus politischen Rücksichten mög¬<lb/>
lichst zu beschränken. Dahin gehören einmal die Gesetze, in welchen unter Er¬<lb/>
gänzung der Gesetzgebung von 1848 die Ideen im Sinne der neuen poli¬<lb/>
tischen Richtung modificirt wurden;' so das preußische Gesetz vom 3. Mai 1852,<lb/>
eine Revision des Gesetzes von 1848, hervorgegangen aus den bekannten Poli¬<lb/>
tischen Parteikämpfen jener preußischen Aera, ferner das badische Gesetz vom<lb/>
5. Februar 1851, welches ebenfalls das Gesetz von 1849 unter argen Incon-<lb/>
sequenzen in der Stellung des Staatsanwalts gegenüber dem alten Inquisitions-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0024] unser Deutschland bedrückte, dort, wo der allein die Untersuchung führende Richter selbst das Urtheil sprach; da fehlt alle Unparteilichkeit, alle Gleichheit zwischen Ankläger und Beklagten, der Richter und Ankläger in einer Person muß den Proceß durchführen und den Verdächtigen verurtheilen, weil der Pro¬ ceß einmal begann. Mitten in diese Misere, welche zumal für die Wehrlosigkeit der vielen po¬ litisch Verfolgten keines erklärenden Zusatzes bedarf, traf das Gewitter von 1848. Fort, hieß es, mit dem alten Strafproceß; wir brauchen den Anklage- Proceß, wie er in Frankreich ist. So erklärten denn die neuen Grundrechte und Verfassungsurtunden Deutschlands, künftig sollte der Anklageproceß gelten. Was indeß darunter zu verstehen, darüber war man keineswegs einig, man wußte z. B. nicht, ob der bei dem Processe fungirende Staatsanwalt den Proceß zu einem Anklagcproceß mache, oder ihn Jnquisitionsproceß bleiben lasse. Beson¬ ders hielt man Anklagcprincip und -form für gleichbedeutend und glaubte durch letztere den öffentlichen Forderungen zu genügen. Hierdurch erklärt sich die Gestaltung des Strasprocesscs seit 1848 in Deutschland. Zwei Perioden müssen hier unterschieden werden. Die Zeit von 1848 bis 1849 wird dadurch charakterisirt, daß die Gesetze in den einzelnen deutschen Staaten den Strafproceß ohne Hintergedanken auf den — theilweise nur mißverstandenen — Grundlagen des französischen Ver- fahrens aufführten. Hierzu gehören einmal die Gesetze, welche mündliches Ver¬ fahren, Anklageprvceß, Schwurgerichte erstrebten, ohne doch ihre Strafproceß- oidnungen vollständig zu refvrnmen, so daß zunächst nur das Verfahren in der Hauptverhandlung geordnet werden, im Uebrigen die alte Proceßordnung fort¬ bestehen sollte. Der Art sind die Gesetze von Bayern, Hessen, Nassau von 1848, die preußische sogenannte „Verordnung", eigentlich das Gesetz vom 3. Januar 1849, das von Baden vom 19. Februar 1849. Sodann fallen in dieselbe Periode diejenigen Gesetze, welche völlig neue Strafproceßordnungen einführten, so in Braunschweig vom 22. August 1849, in Hannover vom 8. November 1850 und in den thüringischen Ländern vom 20. Mai 1850. Seit 1850 beginnt die zweite Periode. Man widerstrebt Seitens der deut¬ schen Regierungen den Schwurgerichten und sucht die im Allgemeinen anerkann¬ ten Grundsätze des neuen Strafverfahrens doch aus politischen Rücksichten mög¬ lichst zu beschränken. Dahin gehören einmal die Gesetze, in welchen unter Er¬ gänzung der Gesetzgebung von 1848 die Ideen im Sinne der neuen poli¬ tischen Richtung modificirt wurden;' so das preußische Gesetz vom 3. Mai 1852, eine Revision des Gesetzes von 1848, hervorgegangen aus den bekannten Poli¬ tischen Parteikämpfen jener preußischen Aera, ferner das badische Gesetz vom 5. Februar 1851, welches ebenfalls das Gesetz von 1849 unter argen Incon- sequenzen in der Stellung des Staatsanwalts gegenüber dem alten Inquisitions-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/24
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/24>, abgerufen am 17.06.2024.