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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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Disereditirte Geschichten aus Mittelalter und Neuzeit.

H. v. Sybel über die Gesetze des historischen Wissens. Bonn, 1864. Max Cohen
und Söhne.

Die vorstehende kleine Schrift unseres Historikers, ursprünglich eine
Festrede am Geburtstage. Friedrich Wilhelms des Dritten, in der Aula zu
Bonn gehalten, zeichnet in glänzender Form und mit sicherer Hand die Grenz¬
linien, innerhalb deren auf dem Gebiete der Geschichte die Möglichkeit sicherer
objectiver Erkenntniß gegeben ist. Im Anschlusse an sie hat es sicherlich
ein Interesse, uns nach jenen "angeblichen Thatsachen, welche die Forschung
als irrige Annahmen früheren Halbwissens über Bord geworfen hat" (S. 3.)
näher umzusehen.

Zu diesem Zweck wird uns vergönnt sein, den zahlreichen Beispielen,
welche jene Schrift enthält, noch eine Reihe anderer hinzuzufügen. Freilich ist
die Zahl des hier zu Erwähnenden so groß, daß trotz der Beschränkung auf
Mittelalter und Neuzeit, um nicht bei einer bloßen dürren Nomenclatur stehen
zu bleiben, nur die wichtigeren dieser discreditirten Geschichten hervorgehoben
werden konnten. Zugleich soll schon die Bezeichnung disereditirte Geschichten
d. h. solche, welche früher einmal den Credit wirklicher Thatsachen gehabt
haben, diejenigen Erzählungen ausschließen, welch? einen sagen- oder legenden¬
haften Charakter so deutlich an der Stirn tragen, daß die Kritik mit ihnen zu
verhandeln nicht nöthig hat.

Daß der Gründer des atheniensischen Staates Theseus ein fabelhaftes Un-
gethüm, den Minotaurus. im Labyrinth zu Kreta erlegt, daß in der Schlacht
am See Regillus die Götter Castor und Pollux auf weißen Rossen herbeigeeilt
seien, um den Römern Beistand zu leisten, so etwas hat die Wissenschaft nicht
nöthig zu bekämpfen, ebenso wenig wie die Legende von der heiligen Elisabeth,
welche gegen das Verbot ihres Gemahls im Schoße ihres Gewandes den
Armen Speise trägt, von diesem überrascht und dieselben für Rosen ausgiebt,
worauf ein Wunder, die Unwahrheit rechtfertigt und, die Speise in Rosen ver-
wandelt.


Grenzboten II. 18V5. 1
Disereditirte Geschichten aus Mittelalter und Neuzeit.

H. v. Sybel über die Gesetze des historischen Wissens. Bonn, 1864. Max Cohen
und Söhne.

Die vorstehende kleine Schrift unseres Historikers, ursprünglich eine
Festrede am Geburtstage. Friedrich Wilhelms des Dritten, in der Aula zu
Bonn gehalten, zeichnet in glänzender Form und mit sicherer Hand die Grenz¬
linien, innerhalb deren auf dem Gebiete der Geschichte die Möglichkeit sicherer
objectiver Erkenntniß gegeben ist. Im Anschlusse an sie hat es sicherlich
ein Interesse, uns nach jenen „angeblichen Thatsachen, welche die Forschung
als irrige Annahmen früheren Halbwissens über Bord geworfen hat" (S. 3.)
näher umzusehen.

Zu diesem Zweck wird uns vergönnt sein, den zahlreichen Beispielen,
welche jene Schrift enthält, noch eine Reihe anderer hinzuzufügen. Freilich ist
die Zahl des hier zu Erwähnenden so groß, daß trotz der Beschränkung auf
Mittelalter und Neuzeit, um nicht bei einer bloßen dürren Nomenclatur stehen
zu bleiben, nur die wichtigeren dieser discreditirten Geschichten hervorgehoben
werden konnten. Zugleich soll schon die Bezeichnung disereditirte Geschichten
d. h. solche, welche früher einmal den Credit wirklicher Thatsachen gehabt
haben, diejenigen Erzählungen ausschließen, welch? einen sagen- oder legenden¬
haften Charakter so deutlich an der Stirn tragen, daß die Kritik mit ihnen zu
verhandeln nicht nöthig hat.

Daß der Gründer des atheniensischen Staates Theseus ein fabelhaftes Un-
gethüm, den Minotaurus. im Labyrinth zu Kreta erlegt, daß in der Schlacht
am See Regillus die Götter Castor und Pollux auf weißen Rossen herbeigeeilt
seien, um den Römern Beistand zu leisten, so etwas hat die Wissenschaft nicht
nöthig zu bekämpfen, ebenso wenig wie die Legende von der heiligen Elisabeth,
welche gegen das Verbot ihres Gemahls im Schoße ihres Gewandes den
Armen Speise trägt, von diesem überrascht und dieselben für Rosen ausgiebt,
worauf ein Wunder, die Unwahrheit rechtfertigt und, die Speise in Rosen ver-
wandelt.


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[0007] Disereditirte Geschichten aus Mittelalter und Neuzeit. H. v. Sybel über die Gesetze des historischen Wissens. Bonn, 1864. Max Cohen und Söhne. Die vorstehende kleine Schrift unseres Historikers, ursprünglich eine Festrede am Geburtstage. Friedrich Wilhelms des Dritten, in der Aula zu Bonn gehalten, zeichnet in glänzender Form und mit sicherer Hand die Grenz¬ linien, innerhalb deren auf dem Gebiete der Geschichte die Möglichkeit sicherer objectiver Erkenntniß gegeben ist. Im Anschlusse an sie hat es sicherlich ein Interesse, uns nach jenen „angeblichen Thatsachen, welche die Forschung als irrige Annahmen früheren Halbwissens über Bord geworfen hat" (S. 3.) näher umzusehen. Zu diesem Zweck wird uns vergönnt sein, den zahlreichen Beispielen, welche jene Schrift enthält, noch eine Reihe anderer hinzuzufügen. Freilich ist die Zahl des hier zu Erwähnenden so groß, daß trotz der Beschränkung auf Mittelalter und Neuzeit, um nicht bei einer bloßen dürren Nomenclatur stehen zu bleiben, nur die wichtigeren dieser discreditirten Geschichten hervorgehoben werden konnten. Zugleich soll schon die Bezeichnung disereditirte Geschichten d. h. solche, welche früher einmal den Credit wirklicher Thatsachen gehabt haben, diejenigen Erzählungen ausschließen, welch? einen sagen- oder legenden¬ haften Charakter so deutlich an der Stirn tragen, daß die Kritik mit ihnen zu verhandeln nicht nöthig hat. Daß der Gründer des atheniensischen Staates Theseus ein fabelhaftes Un- gethüm, den Minotaurus. im Labyrinth zu Kreta erlegt, daß in der Schlacht am See Regillus die Götter Castor und Pollux auf weißen Rossen herbeigeeilt seien, um den Römern Beistand zu leisten, so etwas hat die Wissenschaft nicht nöthig zu bekämpfen, ebenso wenig wie die Legende von der heiligen Elisabeth, welche gegen das Verbot ihres Gemahls im Schoße ihres Gewandes den Armen Speise trägt, von diesem überrascht und dieselben für Rosen ausgiebt, worauf ein Wunder, die Unwahrheit rechtfertigt und, die Speise in Rosen ver- wandelt. Grenzboten II. 18V5. 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/7>, abgerufen am 26.05.2024.