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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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Aber auch in Fällen, wo ein directer Widerstreit mit den Naturgesehen
nicht vorlag, war doch oft die innere UnWahrscheinlichkeit zu groß, als daß
solche Erzählungen jemals den Credit wirklicher Thatsachen hätten erlangen
können und z. B. die Abstammung der alten Franken von den Trojanern, die
Gründung von Kloster Leubus durch die Schwestern Julius Cäsars, die Thaten
der Helden aus der Tafelrunde des Königs Arthus hat kaum jemals jemand
zum Gegenstand historischer Ueberzeugung gemacht.

Dagegen tritt uns gleich an der Schwelle des Mittelalters eine großartige
Erdichtung entgegen, der zufolge Kaiser Konstantin bei seiner Taufe dem Papst
Sylvester den Westen. Italien und die Inseln des westlichen Meeres überlassen
habe, worauf gestützt dann am Ende des elften Jahrhunderts Papst Urban
der Zweite sich die Insel Korsika unterwarf und fast ein Jahrhundert später
Papst Hadrian der Vierte das Recht in Anspruch nahm, Irland an den König
von, England zu verschenken. Diese Fabel repräsentirt eine ganze Classe von
Erfindungen, die wir als tendenziös bezeichnen mögen, sie ward gemacht in
der unverkennbaren Absicht, der weltlichen Macht des Papstthums ein Substrat
zu gewähren, ebenso wie die unter dem Namen der pseudoisidorischen Decretalen
bekannte gleichfalls unechte Sammlung päpstlicher Decrete dies für die geistliche
Seite gethan. So werden dem Fremden noch heute im Dogenpalast zu Vene¬
dig zwei, durch den Pinsel Tintorettos verherrlichte historische Scenen gezeigt,
die Niederlage Friedrichs des Ersten zur See und dessen Demüthigung vor
Papst Alexander dem Dritten, welcher seinen Fuß auf des Kaisers Nacken
seht; die betreffenden Facta haben immer nur in der Phantasie der päpstlichen
Eiferer existirt.

Daneben mag man Erzählungen sehen, welche aus der gerade ent-
gegengeschten Strömung hervorgingen, so jene Fabel von einer Päpstin Jo¬
hanna, welche als Johann der Siebente den päpstlichen Stuhl besessen, eine
Erzählung, die mit allerlei scandalösen Einzelheiten verseht, lange geglaubt
wurde, wie ja denn noch, selbst der berühmte Leibnih in gewisser Weise
für ihre Glaubwürdigkeit in die Schranken getreten ist. Und ebendahin gehört
auch die Erzählung vom Tannhäuser, welche allerdings inS sagenhafte über¬
gehend durch ein Wunder den Stab des Papstes sich begrünen und dadurch
dessen erbarmungsloses Verdammungsurtheil zu Schanden werden läßt. Daß
serner jenen Sagen aus der Zeit der Völkerwanderung, die uns in dem Ni¬
belungenliede so großartig ausgebildet entgegentreten, nur ein verschwindend
kleiner Kern von wirklicher Geschichte zu Grunde liegt, daß die wenigen histo¬
risch erkennbaren Persönlichkeiten, z. B. der Hunnenkönig Attila (Esel) und
der Ostgothenkönig Theodorich (Dietrich von Bern) ganz umgestaltet worden
sind, und daß von den Uebrigen die historische Ueberlieferung so gut wie nichts
Weiß, braucht kaum gesagt zu werden, wenn gleich noch heutzutage im Oden-


Aber auch in Fällen, wo ein directer Widerstreit mit den Naturgesehen
nicht vorlag, war doch oft die innere UnWahrscheinlichkeit zu groß, als daß
solche Erzählungen jemals den Credit wirklicher Thatsachen hätten erlangen
können und z. B. die Abstammung der alten Franken von den Trojanern, die
Gründung von Kloster Leubus durch die Schwestern Julius Cäsars, die Thaten
der Helden aus der Tafelrunde des Königs Arthus hat kaum jemals jemand
zum Gegenstand historischer Ueberzeugung gemacht.

Dagegen tritt uns gleich an der Schwelle des Mittelalters eine großartige
Erdichtung entgegen, der zufolge Kaiser Konstantin bei seiner Taufe dem Papst
Sylvester den Westen. Italien und die Inseln des westlichen Meeres überlassen
habe, worauf gestützt dann am Ende des elften Jahrhunderts Papst Urban
der Zweite sich die Insel Korsika unterwarf und fast ein Jahrhundert später
Papst Hadrian der Vierte das Recht in Anspruch nahm, Irland an den König
von, England zu verschenken. Diese Fabel repräsentirt eine ganze Classe von
Erfindungen, die wir als tendenziös bezeichnen mögen, sie ward gemacht in
der unverkennbaren Absicht, der weltlichen Macht des Papstthums ein Substrat
zu gewähren, ebenso wie die unter dem Namen der pseudoisidorischen Decretalen
bekannte gleichfalls unechte Sammlung päpstlicher Decrete dies für die geistliche
Seite gethan. So werden dem Fremden noch heute im Dogenpalast zu Vene¬
dig zwei, durch den Pinsel Tintorettos verherrlichte historische Scenen gezeigt,
die Niederlage Friedrichs des Ersten zur See und dessen Demüthigung vor
Papst Alexander dem Dritten, welcher seinen Fuß auf des Kaisers Nacken
seht; die betreffenden Facta haben immer nur in der Phantasie der päpstlichen
Eiferer existirt.

Daneben mag man Erzählungen sehen, welche aus der gerade ent-
gegengeschten Strömung hervorgingen, so jene Fabel von einer Päpstin Jo¬
hanna, welche als Johann der Siebente den päpstlichen Stuhl besessen, eine
Erzählung, die mit allerlei scandalösen Einzelheiten verseht, lange geglaubt
wurde, wie ja denn noch, selbst der berühmte Leibnih in gewisser Weise
für ihre Glaubwürdigkeit in die Schranken getreten ist. Und ebendahin gehört
auch die Erzählung vom Tannhäuser, welche allerdings inS sagenhafte über¬
gehend durch ein Wunder den Stab des Papstes sich begrünen und dadurch
dessen erbarmungsloses Verdammungsurtheil zu Schanden werden läßt. Daß
serner jenen Sagen aus der Zeit der Völkerwanderung, die uns in dem Ni¬
belungenliede so großartig ausgebildet entgegentreten, nur ein verschwindend
kleiner Kern von wirklicher Geschichte zu Grunde liegt, daß die wenigen histo¬
risch erkennbaren Persönlichkeiten, z. B. der Hunnenkönig Attila (Esel) und
der Ostgothenkönig Theodorich (Dietrich von Bern) ganz umgestaltet worden
sind, und daß von den Uebrigen die historische Ueberlieferung so gut wie nichts
Weiß, braucht kaum gesagt zu werden, wenn gleich noch heutzutage im Oden-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/8>, abgerufen am 17.06.2024.