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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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der Rosse. Schreie der Luftreiter. Die übermenschliche Gewalt aber, welche
so mächtig über die Länder der Menschen dahinrauscht, setzt er in Verbindung
mit dem Leben der Natur, welches dem Sturm des Frühjahrs und Herbstes
folgt. Im Frühlingswind zerfließt das Eis der Berge und Ströme, der
Winterbann, welcher auf der Erde liegt, wird gelöst, Leben, Blühen, Freude des
Sommers beginnt; der Herbststurm dagegen wirst die gelben Blätter von den
Bäumen, schmucklos und kahl steht die Flur, der Winterschlaf der Erde tritt ein.
Der Gott, welcher im Sturme dcchinbraust, ist ihm der Lebensspender des
Sommers, der zum Kampf auszieht gegen die unheimlichen Gewalten des
Winters und nach dem Sieg über das sonnige Jahr als Erdenherr waltet,
und der wieder im Herbst aus dem Kampfe mit den menschenfeindlichen Riesen
des Nordens in das Innere der Berge sammt seinen Heergesellen zurückgedrängt
wird, wo er träumend des Frühjahrs harrt, des Vogelrufs und der grünende"
Bäume.

Sobald aber das göttliche Leben der Natur als die Wirkung menschen¬
ähnlicher Gestalten empfunden ist, tritt eine zweite Veränderung ein. Auch was
alljährlich geschieht und was der Mensch immer wieder neu werden sieht, faßt
er gern auf als eine Begebenheit im Leben seiner Götter, die einmal geschehn
ist, und er berichtet davon, wie von einem Ereigniß des Menschenlebens, das
in der Vergangenheit liegt. Durch solche Umwandlungen erhalten die Mythen
einen sagenhaften Schein. Das Naturereigniß, welches die Grundlage derselben
ist, tritt im Bewußtsein zurück, sie werden zu Erzählungen, welche Erlebnisse
und Abenteuer der Götter berichten.

Auch wo das Volk den Verlauf irdischer Ereignisse bewahrt, bildet die
Sage die Thatsachen nach ähnlichen Gesichtspunkten um. Der wirkliche Zu¬
sammenhang politischer Begebenheiten, welche sich aus dem Kampf verschieden¬
artiger Interessen und vieler Theilnehmer zusammensetzen, wird undeutlich er¬
kannt und geht schnell dem Gedächtniß verloren. Nur einzelne bedeutende Züge
der Haupthelden werden nach Begabung und Vorliebe des Volkes festgehalten.
Auch hier werden die Charaktere dichterisch zugerichtet, ein Grundzug ihres We¬
sens tritt maßgebend in den Vordergrund, aus ihm werden alle Thaten und
die Motive des Handelns abgeleitet. Oft erscheint uns zufällig und will¬
kürlich, wie das Gemüth des Sängers eine historische Gestalt bewahrt, weil
wir die Wege nicht erkennen, auf denen ihm die Kunde kam. In andern
Fällen ist für uns der Gegensatz zwischen dem politischen Charakter eines Man¬
nes und der Auffassung des Sängers zwar auffällig, aber dem alten Er¬
zähler sind doch Züge des wirklichen Wesens in der Seele geblieben, die wir
noch sehr wohl versteh". So ist kaum ein größerer Unterschied denkbar als
zwischen dem Attila der deutschen Heldensage und dem Bilde, das flüchtige
historische Auffassung von dem Hunnenkönig sich macht. Der greise, milde und


der Rosse. Schreie der Luftreiter. Die übermenschliche Gewalt aber, welche
so mächtig über die Länder der Menschen dahinrauscht, setzt er in Verbindung
mit dem Leben der Natur, welches dem Sturm des Frühjahrs und Herbstes
folgt. Im Frühlingswind zerfließt das Eis der Berge und Ströme, der
Winterbann, welcher auf der Erde liegt, wird gelöst, Leben, Blühen, Freude des
Sommers beginnt; der Herbststurm dagegen wirst die gelben Blätter von den
Bäumen, schmucklos und kahl steht die Flur, der Winterschlaf der Erde tritt ein.
Der Gott, welcher im Sturme dcchinbraust, ist ihm der Lebensspender des
Sommers, der zum Kampf auszieht gegen die unheimlichen Gewalten des
Winters und nach dem Sieg über das sonnige Jahr als Erdenherr waltet,
und der wieder im Herbst aus dem Kampfe mit den menschenfeindlichen Riesen
des Nordens in das Innere der Berge sammt seinen Heergesellen zurückgedrängt
wird, wo er träumend des Frühjahrs harrt, des Vogelrufs und der grünende»
Bäume.

Sobald aber das göttliche Leben der Natur als die Wirkung menschen¬
ähnlicher Gestalten empfunden ist, tritt eine zweite Veränderung ein. Auch was
alljährlich geschieht und was der Mensch immer wieder neu werden sieht, faßt
er gern auf als eine Begebenheit im Leben seiner Götter, die einmal geschehn
ist, und er berichtet davon, wie von einem Ereigniß des Menschenlebens, das
in der Vergangenheit liegt. Durch solche Umwandlungen erhalten die Mythen
einen sagenhaften Schein. Das Naturereigniß, welches die Grundlage derselben
ist, tritt im Bewußtsein zurück, sie werden zu Erzählungen, welche Erlebnisse
und Abenteuer der Götter berichten.

Auch wo das Volk den Verlauf irdischer Ereignisse bewahrt, bildet die
Sage die Thatsachen nach ähnlichen Gesichtspunkten um. Der wirkliche Zu¬
sammenhang politischer Begebenheiten, welche sich aus dem Kampf verschieden¬
artiger Interessen und vieler Theilnehmer zusammensetzen, wird undeutlich er¬
kannt und geht schnell dem Gedächtniß verloren. Nur einzelne bedeutende Züge
der Haupthelden werden nach Begabung und Vorliebe des Volkes festgehalten.
Auch hier werden die Charaktere dichterisch zugerichtet, ein Grundzug ihres We¬
sens tritt maßgebend in den Vordergrund, aus ihm werden alle Thaten und
die Motive des Handelns abgeleitet. Oft erscheint uns zufällig und will¬
kürlich, wie das Gemüth des Sängers eine historische Gestalt bewahrt, weil
wir die Wege nicht erkennen, auf denen ihm die Kunde kam. In andern
Fällen ist für uns der Gegensatz zwischen dem politischen Charakter eines Man¬
nes und der Auffassung des Sängers zwar auffällig, aber dem alten Er¬
zähler sind doch Züge des wirklichen Wesens in der Seele geblieben, die wir
noch sehr wohl versteh». So ist kaum ein größerer Unterschied denkbar als
zwischen dem Attila der deutschen Heldensage und dem Bilde, das flüchtige
historische Auffassung von dem Hunnenkönig sich macht. Der greise, milde und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/32>, abgerufen am 18.06.2024.