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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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wohlwollende König des Nibelungenliedes hat - so scheint es -- nichts von der
wilden Größe eines orientalischen Despoten, der Attila in Wirklichkeit war. Aber
wer näher zusieht, begreift allerdings, daß den Sängern der Ostgothen. der
Heruler und Franken das Bild des freigebigen, gerecht waltenden, gegen seine
Anhänger gnadenvollen Herrschers im Vordergrund stehn konnte, und daß bei
deutschen Stämmen, die nicht Hunnenstolz, sondern die Freude an ihren Stamm¬
helden zum Sänge trieb, weniger die Thaten des furchtbaren Mannes, als die
Schicksale, welche ihn durch die Thaten Anderer trafen, in dämmeriger Erin-
nerung hafteten.

Wie die Menschen formen sich auch die Thatsachen frei nach dem Gefühl
der Sänger. Nur was ihnen für groß gilt, wird im Gedächtniß bewahrt, auch
dies wird nach dem bereits vorhandenen poetischen Inhalt anderer Sagen un-
befangen umgestaltet. Immer sind es die Abenteuer des Helden, welche dem
kampssrohen Volke als das Höchste erscheinen, sein Streit. Sieg und Untergang.
Ebenso wird das Schicksal des Helden gedeutet nach der Auffassung, welche der
Sänger von dem Zusammenhang zwischen That und Folgen, Unrecht und Ver¬
geltung in sich trägt. Tiefsinnig und ergreifend ist oft diese Auffassung des
Verhängnisses. Jedem Volke ist ein gewisser Schatz von poetischen Situationen
gegeben, in denen es seine Helden zu erblicken liebt. Träume und Vorzeichen
leiten die Ereignisse ein. unter diesen stehen obenan Zweikämpfe, in denen sich
Heldentühnheit Mann gegen Mann bethätigt. Bezwingung von Niesen und
Ungeheuern, Brautwerbung durch Gesandte. Festgelage und Kampfspiele, zuletzt,
ein großartig geschilderter Todeskampf, die Totenfeier und die Rache. Dazu
die Einwirkung beglückender und zerstörender Leidenschaften: Liebe, Haß, Neid,
Habgier. Rache.

Nach solchen Gesichtspunkten geht die Umgestaltung jedes realen historischen
Inhalts durch den Sänger mit großer Energie vor sich. Schon bei dem Be-
richt über Begebenheiten, welche in naher Vergangenheit liegen und dem
Sänger wie seinen Hörern wohlbekannt sind, ist die Umbildung geschäftig.
Von einer Schlacht z.B. wird keineswegs der wirkliche Verlauf erzählt, wie
ihn etwa jetzt ein Schriftsteller aus den Berichten der Heerführer zusammen¬
stellt, sondern einzelne Vorfälle derselben, Züge Hom Heldenmuth, die sich um
den Führer des Kampfes gruppiren. Was durchaus kein historisches Bild ist,
macht doch allen Hörern den Eindruck höchster Wahrheit, weil es auch ihnen
für die Hauptsache gilt. Daß die Westgothen mitten in der catalaunischen
Schlacht ihrem gefallenen König Theodorich die Totenklage halten, daß Attila
am Abend darauf in der Wagenburg die Sättel seiner Rosse sich zum Scheiter¬
haufen zusammensetzen läßt, daß die Wogen des Flusses roth dahinschäumen
von dem Blute der hunderttausend Gefallenen, daß der Wolf heult, der Rabe
zur Schlacht fliegt, das sind Züge, die entweder der Wirklichkeit entnommen


wohlwollende König des Nibelungenliedes hat - so scheint es — nichts von der
wilden Größe eines orientalischen Despoten, der Attila in Wirklichkeit war. Aber
wer näher zusieht, begreift allerdings, daß den Sängern der Ostgothen. der
Heruler und Franken das Bild des freigebigen, gerecht waltenden, gegen seine
Anhänger gnadenvollen Herrschers im Vordergrund stehn konnte, und daß bei
deutschen Stämmen, die nicht Hunnenstolz, sondern die Freude an ihren Stamm¬
helden zum Sänge trieb, weniger die Thaten des furchtbaren Mannes, als die
Schicksale, welche ihn durch die Thaten Anderer trafen, in dämmeriger Erin-
nerung hafteten.

Wie die Menschen formen sich auch die Thatsachen frei nach dem Gefühl
der Sänger. Nur was ihnen für groß gilt, wird im Gedächtniß bewahrt, auch
dies wird nach dem bereits vorhandenen poetischen Inhalt anderer Sagen un-
befangen umgestaltet. Immer sind es die Abenteuer des Helden, welche dem
kampssrohen Volke als das Höchste erscheinen, sein Streit. Sieg und Untergang.
Ebenso wird das Schicksal des Helden gedeutet nach der Auffassung, welche der
Sänger von dem Zusammenhang zwischen That und Folgen, Unrecht und Ver¬
geltung in sich trägt. Tiefsinnig und ergreifend ist oft diese Auffassung des
Verhängnisses. Jedem Volke ist ein gewisser Schatz von poetischen Situationen
gegeben, in denen es seine Helden zu erblicken liebt. Träume und Vorzeichen
leiten die Ereignisse ein. unter diesen stehen obenan Zweikämpfe, in denen sich
Heldentühnheit Mann gegen Mann bethätigt. Bezwingung von Niesen und
Ungeheuern, Brautwerbung durch Gesandte. Festgelage und Kampfspiele, zuletzt,
ein großartig geschilderter Todeskampf, die Totenfeier und die Rache. Dazu
die Einwirkung beglückender und zerstörender Leidenschaften: Liebe, Haß, Neid,
Habgier. Rache.

Nach solchen Gesichtspunkten geht die Umgestaltung jedes realen historischen
Inhalts durch den Sänger mit großer Energie vor sich. Schon bei dem Be-
richt über Begebenheiten, welche in naher Vergangenheit liegen und dem
Sänger wie seinen Hörern wohlbekannt sind, ist die Umbildung geschäftig.
Von einer Schlacht z.B. wird keineswegs der wirkliche Verlauf erzählt, wie
ihn etwa jetzt ein Schriftsteller aus den Berichten der Heerführer zusammen¬
stellt, sondern einzelne Vorfälle derselben, Züge Hom Heldenmuth, die sich um
den Führer des Kampfes gruppiren. Was durchaus kein historisches Bild ist,
macht doch allen Hörern den Eindruck höchster Wahrheit, weil es auch ihnen
für die Hauptsache gilt. Daß die Westgothen mitten in der catalaunischen
Schlacht ihrem gefallenen König Theodorich die Totenklage halten, daß Attila
am Abend darauf in der Wagenburg die Sättel seiner Rosse sich zum Scheiter¬
haufen zusammensetzen läßt, daß die Wogen des Flusses roth dahinschäumen
von dem Blute der hunderttausend Gefallenen, daß der Wolf heult, der Rabe
zur Schlacht fliegt, das sind Züge, die entweder der Wirklichkeit entnommen


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[0033] wohlwollende König des Nibelungenliedes hat - so scheint es — nichts von der wilden Größe eines orientalischen Despoten, der Attila in Wirklichkeit war. Aber wer näher zusieht, begreift allerdings, daß den Sängern der Ostgothen. der Heruler und Franken das Bild des freigebigen, gerecht waltenden, gegen seine Anhänger gnadenvollen Herrschers im Vordergrund stehn konnte, und daß bei deutschen Stämmen, die nicht Hunnenstolz, sondern die Freude an ihren Stamm¬ helden zum Sänge trieb, weniger die Thaten des furchtbaren Mannes, als die Schicksale, welche ihn durch die Thaten Anderer trafen, in dämmeriger Erin- nerung hafteten. Wie die Menschen formen sich auch die Thatsachen frei nach dem Gefühl der Sänger. Nur was ihnen für groß gilt, wird im Gedächtniß bewahrt, auch dies wird nach dem bereits vorhandenen poetischen Inhalt anderer Sagen un- befangen umgestaltet. Immer sind es die Abenteuer des Helden, welche dem kampssrohen Volke als das Höchste erscheinen, sein Streit. Sieg und Untergang. Ebenso wird das Schicksal des Helden gedeutet nach der Auffassung, welche der Sänger von dem Zusammenhang zwischen That und Folgen, Unrecht und Ver¬ geltung in sich trägt. Tiefsinnig und ergreifend ist oft diese Auffassung des Verhängnisses. Jedem Volke ist ein gewisser Schatz von poetischen Situationen gegeben, in denen es seine Helden zu erblicken liebt. Träume und Vorzeichen leiten die Ereignisse ein. unter diesen stehen obenan Zweikämpfe, in denen sich Heldentühnheit Mann gegen Mann bethätigt. Bezwingung von Niesen und Ungeheuern, Brautwerbung durch Gesandte. Festgelage und Kampfspiele, zuletzt, ein großartig geschilderter Todeskampf, die Totenfeier und die Rache. Dazu die Einwirkung beglückender und zerstörender Leidenschaften: Liebe, Haß, Neid, Habgier. Rache. Nach solchen Gesichtspunkten geht die Umgestaltung jedes realen historischen Inhalts durch den Sänger mit großer Energie vor sich. Schon bei dem Be- richt über Begebenheiten, welche in naher Vergangenheit liegen und dem Sänger wie seinen Hörern wohlbekannt sind, ist die Umbildung geschäftig. Von einer Schlacht z.B. wird keineswegs der wirkliche Verlauf erzählt, wie ihn etwa jetzt ein Schriftsteller aus den Berichten der Heerführer zusammen¬ stellt, sondern einzelne Vorfälle derselben, Züge Hom Heldenmuth, die sich um den Führer des Kampfes gruppiren. Was durchaus kein historisches Bild ist, macht doch allen Hörern den Eindruck höchster Wahrheit, weil es auch ihnen für die Hauptsache gilt. Daß die Westgothen mitten in der catalaunischen Schlacht ihrem gefallenen König Theodorich die Totenklage halten, daß Attila am Abend darauf in der Wagenburg die Sättel seiner Rosse sich zum Scheiter¬ haufen zusammensetzen läßt, daß die Wogen des Flusses roth dahinschäumen von dem Blute der hunderttausend Gefallenen, daß der Wolf heult, der Rabe zur Schlacht fliegt, das sind Züge, die entweder der Wirklichkeit entnommen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/33>, abgerufen am 18.06.2024.