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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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oder als regelmäßig wiederkehrender Schmuck zugefügt, die Schlachtbeschreibung
bilden. Wenn der Longobardenkönig Authari um die bayrische Fürstentochter
Theudelinde freit, kümmert den Sänger, der seiner Zeit und dem nächsten Ge¬
schlecht die fröhliche Fahrt verkündet, durchaus nicht, welche politischen Rück¬
sichten den König zu dieser Ehe veranlaßten, das Motiv ist ihm durch alte
epische Gewohnheit gegeben. Der König hat von einem Rathgeber gehört,
daß die Fürstentochter schön sei, daher ist ihm der Wunsch gekommen, sie zu
erwerben. Die Momente der Brautfahrt aber sind wieder solche, welche den
Zeitgenossen die Seele anmuthig erregen, daß der König selbst verkleidet mit
der Gesandtschaft zieht, daß er sich nicht enthalten kann, der Jungfrau mit der
Hand über das holde Antlitz zu streichen, als sie ihm wie den andern Ge¬
sandten den Becher zum Willkommen bietet, ferner daß die Königstochter mit
ihrer Amme über den dreisten Mann spricht, und daß die kluge Alte an der
Liebkosung des Königs Hand erkennt; endlich daß Authari auf dem Heimritt
den bayerischen Begleitern seinen Namen verräth, indem er mit der Streitaxt
in den Grenzbaum haut und lachend zurückruft: "das sind König Autharis
Hiebe". Ein solcher Bericht des Sängers ist aus kleinen Anekdoten, wirklichen
oder gefundenen zusammengesetzt, nach der gemüthlichen Neigung der Hörer, aber
nicht nach den Gesichtspunkten eines Geschichtschreibers.

Je länger solche Sage von Ohr zu Ohr klingt, um so völliger wird ihre
Umwandlung nach dem Herzensbedürfniß des Sängers und der Hörer, sie be¬
wahrt vielleicht nur eine sehr entfernte Erinnerung an das wirkliche Sachver¬
hältniß. Denn der Sinn für objective Wahrheit fehlt gänzlich, das Interesse,
die Einzelheiten zu bewahren, fehlt, und ebenso die Fähigkeit, dieselben dar¬
zustellen. Allerdings ist die Umwandlung sehr ungleich, welche ein geschicht¬
liches Ereigniß in dieser Ueberlieferung erfährt. Dem einen Volke ist die Phan¬
tasie geschäftiger, die Farbenmischung, welche über die Thatsachen gesetzt wird, ist
bunter, seltsamer, grotesker, die Fähigkeit, menschliche Thaten und Schicksale in
inneren Zusammenhang zu bringen, geringer. Es ist ein unermeßlicher Unter¬
schied zwischen den ungeheuerlichen Verwandlungen des finnischen Epos und
der schönen Spiegelung der Menschenseele im griechischen, kein geringerer
zwischen dem hochsinnigen Tod-eshumor des deutschen Hagen und Volker und
dem eintönigen Kampfzorn des serbischen Marko. Aber auch dasselbe Volk
behandelt seine Sagen verschieden, grade die größte Umformung erfahren die
Gesänge, welche Lieblingshelden oder Lieblingssituationen des Volkes feiern.
An ihnen erweist die Kunst des Sängers am meisten ihre schöpferische Kunst,
häufig sind die Wandlungen, mehre Berichte über dieselbe Begebenheit fließen
zusammen. Vieles, was noch von geschichtlichen Thatsachen, von Namen und
Einzelheiten überliefert war, geht verloren, dafür dringen Zusätze aus andern
Sagen ein. Endlich werden gar mehre Sagen von verwandtem Inhalt, zumal


oder als regelmäßig wiederkehrender Schmuck zugefügt, die Schlachtbeschreibung
bilden. Wenn der Longobardenkönig Authari um die bayrische Fürstentochter
Theudelinde freit, kümmert den Sänger, der seiner Zeit und dem nächsten Ge¬
schlecht die fröhliche Fahrt verkündet, durchaus nicht, welche politischen Rück¬
sichten den König zu dieser Ehe veranlaßten, das Motiv ist ihm durch alte
epische Gewohnheit gegeben. Der König hat von einem Rathgeber gehört,
daß die Fürstentochter schön sei, daher ist ihm der Wunsch gekommen, sie zu
erwerben. Die Momente der Brautfahrt aber sind wieder solche, welche den
Zeitgenossen die Seele anmuthig erregen, daß der König selbst verkleidet mit
der Gesandtschaft zieht, daß er sich nicht enthalten kann, der Jungfrau mit der
Hand über das holde Antlitz zu streichen, als sie ihm wie den andern Ge¬
sandten den Becher zum Willkommen bietet, ferner daß die Königstochter mit
ihrer Amme über den dreisten Mann spricht, und daß die kluge Alte an der
Liebkosung des Königs Hand erkennt; endlich daß Authari auf dem Heimritt
den bayerischen Begleitern seinen Namen verräth, indem er mit der Streitaxt
in den Grenzbaum haut und lachend zurückruft: „das sind König Autharis
Hiebe". Ein solcher Bericht des Sängers ist aus kleinen Anekdoten, wirklichen
oder gefundenen zusammengesetzt, nach der gemüthlichen Neigung der Hörer, aber
nicht nach den Gesichtspunkten eines Geschichtschreibers.

Je länger solche Sage von Ohr zu Ohr klingt, um so völliger wird ihre
Umwandlung nach dem Herzensbedürfniß des Sängers und der Hörer, sie be¬
wahrt vielleicht nur eine sehr entfernte Erinnerung an das wirkliche Sachver¬
hältniß. Denn der Sinn für objective Wahrheit fehlt gänzlich, das Interesse,
die Einzelheiten zu bewahren, fehlt, und ebenso die Fähigkeit, dieselben dar¬
zustellen. Allerdings ist die Umwandlung sehr ungleich, welche ein geschicht¬
liches Ereigniß in dieser Ueberlieferung erfährt. Dem einen Volke ist die Phan¬
tasie geschäftiger, die Farbenmischung, welche über die Thatsachen gesetzt wird, ist
bunter, seltsamer, grotesker, die Fähigkeit, menschliche Thaten und Schicksale in
inneren Zusammenhang zu bringen, geringer. Es ist ein unermeßlicher Unter¬
schied zwischen den ungeheuerlichen Verwandlungen des finnischen Epos und
der schönen Spiegelung der Menschenseele im griechischen, kein geringerer
zwischen dem hochsinnigen Tod-eshumor des deutschen Hagen und Volker und
dem eintönigen Kampfzorn des serbischen Marko. Aber auch dasselbe Volk
behandelt seine Sagen verschieden, grade die größte Umformung erfahren die
Gesänge, welche Lieblingshelden oder Lieblingssituationen des Volkes feiern.
An ihnen erweist die Kunst des Sängers am meisten ihre schöpferische Kunst,
häufig sind die Wandlungen, mehre Berichte über dieselbe Begebenheit fließen
zusammen. Vieles, was noch von geschichtlichen Thatsachen, von Namen und
Einzelheiten überliefert war, geht verloren, dafür dringen Zusätze aus andern
Sagen ein. Endlich werden gar mehre Sagen von verwandtem Inhalt, zumal


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[0034] oder als regelmäßig wiederkehrender Schmuck zugefügt, die Schlachtbeschreibung bilden. Wenn der Longobardenkönig Authari um die bayrische Fürstentochter Theudelinde freit, kümmert den Sänger, der seiner Zeit und dem nächsten Ge¬ schlecht die fröhliche Fahrt verkündet, durchaus nicht, welche politischen Rück¬ sichten den König zu dieser Ehe veranlaßten, das Motiv ist ihm durch alte epische Gewohnheit gegeben. Der König hat von einem Rathgeber gehört, daß die Fürstentochter schön sei, daher ist ihm der Wunsch gekommen, sie zu erwerben. Die Momente der Brautfahrt aber sind wieder solche, welche den Zeitgenossen die Seele anmuthig erregen, daß der König selbst verkleidet mit der Gesandtschaft zieht, daß er sich nicht enthalten kann, der Jungfrau mit der Hand über das holde Antlitz zu streichen, als sie ihm wie den andern Ge¬ sandten den Becher zum Willkommen bietet, ferner daß die Königstochter mit ihrer Amme über den dreisten Mann spricht, und daß die kluge Alte an der Liebkosung des Königs Hand erkennt; endlich daß Authari auf dem Heimritt den bayerischen Begleitern seinen Namen verräth, indem er mit der Streitaxt in den Grenzbaum haut und lachend zurückruft: „das sind König Autharis Hiebe". Ein solcher Bericht des Sängers ist aus kleinen Anekdoten, wirklichen oder gefundenen zusammengesetzt, nach der gemüthlichen Neigung der Hörer, aber nicht nach den Gesichtspunkten eines Geschichtschreibers. Je länger solche Sage von Ohr zu Ohr klingt, um so völliger wird ihre Umwandlung nach dem Herzensbedürfniß des Sängers und der Hörer, sie be¬ wahrt vielleicht nur eine sehr entfernte Erinnerung an das wirkliche Sachver¬ hältniß. Denn der Sinn für objective Wahrheit fehlt gänzlich, das Interesse, die Einzelheiten zu bewahren, fehlt, und ebenso die Fähigkeit, dieselben dar¬ zustellen. Allerdings ist die Umwandlung sehr ungleich, welche ein geschicht¬ liches Ereigniß in dieser Ueberlieferung erfährt. Dem einen Volke ist die Phan¬ tasie geschäftiger, die Farbenmischung, welche über die Thatsachen gesetzt wird, ist bunter, seltsamer, grotesker, die Fähigkeit, menschliche Thaten und Schicksale in inneren Zusammenhang zu bringen, geringer. Es ist ein unermeßlicher Unter¬ schied zwischen den ungeheuerlichen Verwandlungen des finnischen Epos und der schönen Spiegelung der Menschenseele im griechischen, kein geringerer zwischen dem hochsinnigen Tod-eshumor des deutschen Hagen und Volker und dem eintönigen Kampfzorn des serbischen Marko. Aber auch dasselbe Volk behandelt seine Sagen verschieden, grade die größte Umformung erfahren die Gesänge, welche Lieblingshelden oder Lieblingssituationen des Volkes feiern. An ihnen erweist die Kunst des Sängers am meisten ihre schöpferische Kunst, häufig sind die Wandlungen, mehre Berichte über dieselbe Begebenheit fließen zusammen. Vieles, was noch von geschichtlichen Thatsachen, von Namen und Einzelheiten überliefert war, geht verloren, dafür dringen Zusätze aus andern Sagen ein. Endlich werden gar mehre Sagen von verwandtem Inhalt, zumal

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/34>, abgerufen am 18.06.2024.