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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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ihres Wesens gar keinen Anspruch machten, dem Fluge seines Geistes zu folgen,
die aber auch gar keine Ahnung davon haben konnten, daß ihr alter Freund
gleichsam einer andern Reihe von Wesen als sie selbst angehörte.

Allerdings wurde von ihm vorausgesetzt, daß seine Freunde und die Menschen
überhaupt zu ihm kamen. Ein Recht auf Reciprocität erkannte er je länger
desto weniger an und es verstand sich von selbst, daß niemand den Anspruch
auf ein solches erhob. Es gehörte in den letzten zwanzig Jahren zu den Er¬
eignissen, von denen Tage lang gesprochen werden konnte, wenn man ihn ein¬
mal an irgendeinem der öffentlichen Geselligkeit gewidmeten Orte sah. Die
Umgebung seines Wohnsitzes Neuses oder Koburgs ist bekanntlich sehr reich an
sogenannten schönen Punkten, die nach unserer deutschen Sitte erst dadurch
recht schön werden, daß sie zugleich mit einer trefflichen Anstalt zur Pflege des
Leibes, zur Stillung von Hunger und Durst verbunden sind. Fremde und
Einheimische konnten es schwer begreifen, wie man sich dieser unschuldigen
Ergötzlichkeiten so ganz enthalten mochte, ohne durch irgendwelches äußere
Hinderniß davon ausgeschlossen zu sein. Denn daß er bis in sein höchstes Alter
ein rüstiger Fußgänger geblieben war, wußte jeder: seine täglichen Spaziergänge
richteten sich zwar mit Vorliebe in die einsameren Theile der Gegend, aber er
vermied es auch nicht, die lebhafteren Straßen zu betreten oder doch zu kreuzen,
auf denen sich das muntere Völkchen der einheimischen und fremden Freunde
der Natur in jenem substantiellen Begriffe tummelte. Die eigentlichen Ursachen
sind sehr leicht anzugeben: vor allem war es eine ganz unreflectirte Folge
seines körperlichen Befindens. Nur die regelmäßigste und einfachste Ordnung
des täglichen Lebens schützte ihn vor ernsthafterer Anfechtungen, denen sein
Organismus, ein wunderbares Gemisch der größten Reizbarkeit und grenzen¬
loser Elasticität und Wiederherstcllungskraft, selbst unzweifelhaft ausgesetzt ge¬
wesen wäre. So kam er gewöhnlich mit leichten Störungen davon, die am
sichersten eben nur durch die Lebensordnung selbst, wie er sie sich gegeben hatte,
beseitigt wurden, aber auch sich so häufig wiederholten, daß er immer auf der
Hut sein mußte. Draußen d. h. sowohl außerhalb der häuslichen Regelmäßig¬
keit als außerhalb des Kreises der gewohnten Spaziergänge war grade sür eine
Natur, wie die seine, die so ganz und voll in das Interesse des Augenblicks
eintrat, eine solche Hut unmöglich und so vermied er lieber alle Veranlassung,
wo er sie hätte üben müssen. Dazu kam noch, daß er überhaupt am liebsten
einsam unter freiem Himmel wandelte. Selbst seine Befreundetsten und Nächsten
duldete er wohl als Begleiter auf seinen Spaziergängen, aber doch nur aus¬
nahmsweise. Gewöhnlich ging er allein, entweder um den Faden geistiger
Arbeit, der ihn grade unauflöslich fesselte, durch das Gegengewicht einer körper¬
lichen Thätigkeit, die als rein mechanisch ihn nicht von jener abzog, fortzu-
spinnen, oder um sich ganz und schrankenlos, ungestört durch die Ansprüche


ihres Wesens gar keinen Anspruch machten, dem Fluge seines Geistes zu folgen,
die aber auch gar keine Ahnung davon haben konnten, daß ihr alter Freund
gleichsam einer andern Reihe von Wesen als sie selbst angehörte.

Allerdings wurde von ihm vorausgesetzt, daß seine Freunde und die Menschen
überhaupt zu ihm kamen. Ein Recht auf Reciprocität erkannte er je länger
desto weniger an und es verstand sich von selbst, daß niemand den Anspruch
auf ein solches erhob. Es gehörte in den letzten zwanzig Jahren zu den Er¬
eignissen, von denen Tage lang gesprochen werden konnte, wenn man ihn ein¬
mal an irgendeinem der öffentlichen Geselligkeit gewidmeten Orte sah. Die
Umgebung seines Wohnsitzes Neuses oder Koburgs ist bekanntlich sehr reich an
sogenannten schönen Punkten, die nach unserer deutschen Sitte erst dadurch
recht schön werden, daß sie zugleich mit einer trefflichen Anstalt zur Pflege des
Leibes, zur Stillung von Hunger und Durst verbunden sind. Fremde und
Einheimische konnten es schwer begreifen, wie man sich dieser unschuldigen
Ergötzlichkeiten so ganz enthalten mochte, ohne durch irgendwelches äußere
Hinderniß davon ausgeschlossen zu sein. Denn daß er bis in sein höchstes Alter
ein rüstiger Fußgänger geblieben war, wußte jeder: seine täglichen Spaziergänge
richteten sich zwar mit Vorliebe in die einsameren Theile der Gegend, aber er
vermied es auch nicht, die lebhafteren Straßen zu betreten oder doch zu kreuzen,
auf denen sich das muntere Völkchen der einheimischen und fremden Freunde
der Natur in jenem substantiellen Begriffe tummelte. Die eigentlichen Ursachen
sind sehr leicht anzugeben: vor allem war es eine ganz unreflectirte Folge
seines körperlichen Befindens. Nur die regelmäßigste und einfachste Ordnung
des täglichen Lebens schützte ihn vor ernsthafterer Anfechtungen, denen sein
Organismus, ein wunderbares Gemisch der größten Reizbarkeit und grenzen¬
loser Elasticität und Wiederherstcllungskraft, selbst unzweifelhaft ausgesetzt ge¬
wesen wäre. So kam er gewöhnlich mit leichten Störungen davon, die am
sichersten eben nur durch die Lebensordnung selbst, wie er sie sich gegeben hatte,
beseitigt wurden, aber auch sich so häufig wiederholten, daß er immer auf der
Hut sein mußte. Draußen d. h. sowohl außerhalb der häuslichen Regelmäßig¬
keit als außerhalb des Kreises der gewohnten Spaziergänge war grade sür eine
Natur, wie die seine, die so ganz und voll in das Interesse des Augenblicks
eintrat, eine solche Hut unmöglich und so vermied er lieber alle Veranlassung,
wo er sie hätte üben müssen. Dazu kam noch, daß er überhaupt am liebsten
einsam unter freiem Himmel wandelte. Selbst seine Befreundetsten und Nächsten
duldete er wohl als Begleiter auf seinen Spaziergängen, aber doch nur aus¬
nahmsweise. Gewöhnlich ging er allein, entweder um den Faden geistiger
Arbeit, der ihn grade unauflöslich fesselte, durch das Gegengewicht einer körper¬
lichen Thätigkeit, die als rein mechanisch ihn nicht von jener abzog, fortzu-
spinnen, oder um sich ganz und schrankenlos, ungestört durch die Ansprüche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/18>, abgerufen am 15.05.2024.