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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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großen Slavenreiches und den welterschütternden Erben, Gebieter und Apostel
der großen Revolution,, stehen an allen großen Wendepunkten der Geschichte,
Marksteinen gleich, jene Giganten des Menschengeschlechtes, bald die sinkenden
und zersplitternden Kräfte eines Zeitalters noch einmal zu einer mächtigen Kraft¬
äußerung zusammenfassend, bald die brausende Jugendkraft eines noch frischen,
aber rohen Geschlechtes unter das Joch des staatlichen Lebens zwingend, bald
das unerbittliche Gericht über ein gesunkenes, absterbendes Geschlecht vollziehend,
bald einem aufkeimenden Geschlechte die Wege einer neuen Entwickelung vor¬
zeichnend. Daß eine von den angedeuteten Gesichtspunkten ausgehende Charak¬
teristik den großen Epochen der Weltgeschichte und ihrer hauptsächlichsten Re¬
präsentanten einem phantasiereichen Autor einen sehr ergiebigen Stoff bieten
würde, den zu beherrschen es indessen neben der Phantasie eines sehr klaren
Verstandes und scharfen Urtheils bedürfte, ist augenscheinlich. So umfassend
ist aber die Aufgabe, die Lamartine sich gestellt hat, keineswegs. Sein Buch
besteht aus einer Anzahl reichlich mit Raisonnement durchwehten essayartigen
Biographien hervorragender Persönlichkeiten, die zum Theil indessen nur ge¬
zwungen in eine der beiden auf dem Titel angegebenen Kategorien eingereiht
werden können: Solon. Perikles, Michel Angelo, Peter der Große, Catharina
die Zweite, Joachim Murat. Auch machen einige der Aufsätze den Eindruck,
als ob sie ganz vereinzelt entstanden wären und der Verfasser erst später den
Plan gefaßt hätte, sie in einem Werke unter einem Titel zusammenzufassen. So
findet sich in dem den Perikles behandelnden Abschnitt episodisch manches wieder¬
holt, was schon in der Biographie des Solon vorgetragen war: in einem nach
einem einheitlichen Plane entworfenen Werke hätte dies nicht vorkommen können.
Indessen wir sehen von dieser Aeußerlichkeit ab und wollen auch mit dem
Verfasser nicht darüber rechten, daß er uns nicht ganz das bietet, was der
Titel verspricht, sondern uns einfach an das halten, was er uns bietet.

Eine Bereicherung der historischen Wissenschaft mit neuen und zugleich
sicher begründeten Resultaten einer selbständigen Forschung wird niemand von
Lamartine erwarten. Auch wo er in seinen Studien bis aus die Quellen zu¬
rückgeht, mangelt es ihm an der Kritik, die das Quellenstudium erst nutzbar
macht. In seinem bekanntesten Geschichtswerke, den Girondisten, prägt sich der
Typus seiner Monographischen Eigenthümlichkeit so bestimmt und scharf aus,
daß man mit Sicherheit darauf rechnen kann, denselben Charakter in seinen
folgenden Werken wiederzufinden. Eine Individualität wie die Lamartines
formt jeden Stoff nach ihrer scharf ausgesprochenen Eigenthümlichkeit. Sein
historischer Stil ist nichts weniger als fehlerfrei; dazu ist die Erzählung nicht
einfach genug, und zu sehr von Reflexionen und scharf zugespitzten Sentenzen
unterbrochen. Aber sie ist jedenfalls interessant und anregend, oft hinreißend.
Er weiß das Detail, welches ihm zu Gebote steht, gefällig zu gruppiren, er


großen Slavenreiches und den welterschütternden Erben, Gebieter und Apostel
der großen Revolution,, stehen an allen großen Wendepunkten der Geschichte,
Marksteinen gleich, jene Giganten des Menschengeschlechtes, bald die sinkenden
und zersplitternden Kräfte eines Zeitalters noch einmal zu einer mächtigen Kraft¬
äußerung zusammenfassend, bald die brausende Jugendkraft eines noch frischen,
aber rohen Geschlechtes unter das Joch des staatlichen Lebens zwingend, bald
das unerbittliche Gericht über ein gesunkenes, absterbendes Geschlecht vollziehend,
bald einem aufkeimenden Geschlechte die Wege einer neuen Entwickelung vor¬
zeichnend. Daß eine von den angedeuteten Gesichtspunkten ausgehende Charak¬
teristik den großen Epochen der Weltgeschichte und ihrer hauptsächlichsten Re¬
präsentanten einem phantasiereichen Autor einen sehr ergiebigen Stoff bieten
würde, den zu beherrschen es indessen neben der Phantasie eines sehr klaren
Verstandes und scharfen Urtheils bedürfte, ist augenscheinlich. So umfassend
ist aber die Aufgabe, die Lamartine sich gestellt hat, keineswegs. Sein Buch
besteht aus einer Anzahl reichlich mit Raisonnement durchwehten essayartigen
Biographien hervorragender Persönlichkeiten, die zum Theil indessen nur ge¬
zwungen in eine der beiden auf dem Titel angegebenen Kategorien eingereiht
werden können: Solon. Perikles, Michel Angelo, Peter der Große, Catharina
die Zweite, Joachim Murat. Auch machen einige der Aufsätze den Eindruck,
als ob sie ganz vereinzelt entstanden wären und der Verfasser erst später den
Plan gefaßt hätte, sie in einem Werke unter einem Titel zusammenzufassen. So
findet sich in dem den Perikles behandelnden Abschnitt episodisch manches wieder¬
holt, was schon in der Biographie des Solon vorgetragen war: in einem nach
einem einheitlichen Plane entworfenen Werke hätte dies nicht vorkommen können.
Indessen wir sehen von dieser Aeußerlichkeit ab und wollen auch mit dem
Verfasser nicht darüber rechten, daß er uns nicht ganz das bietet, was der
Titel verspricht, sondern uns einfach an das halten, was er uns bietet.

Eine Bereicherung der historischen Wissenschaft mit neuen und zugleich
sicher begründeten Resultaten einer selbständigen Forschung wird niemand von
Lamartine erwarten. Auch wo er in seinen Studien bis aus die Quellen zu¬
rückgeht, mangelt es ihm an der Kritik, die das Quellenstudium erst nutzbar
macht. In seinem bekanntesten Geschichtswerke, den Girondisten, prägt sich der
Typus seiner Monographischen Eigenthümlichkeit so bestimmt und scharf aus,
daß man mit Sicherheit darauf rechnen kann, denselben Charakter in seinen
folgenden Werken wiederzufinden. Eine Individualität wie die Lamartines
formt jeden Stoff nach ihrer scharf ausgesprochenen Eigenthümlichkeit. Sein
historischer Stil ist nichts weniger als fehlerfrei; dazu ist die Erzählung nicht
einfach genug, und zu sehr von Reflexionen und scharf zugespitzten Sentenzen
unterbrochen. Aber sie ist jedenfalls interessant und anregend, oft hinreißend.
Er weiß das Detail, welches ihm zu Gebote steht, gefällig zu gruppiren, er


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/30>, abgerufen am 15.05.2024.