Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

schildert und beschreibt anschaulich und lebendig. Nach der thatsächlichen Be¬
gründung des Details darf man freilich nicht allzu genau fragen; man würde
auch in den wenigsten Fällen eine Antwort erhalten, da er seine Quellen selten
angiebt. Somit ist denn ein gelinder Zweifel an der Realität mancher er¬
greifenden Scene, mancher pikanten Verwickelung wohl erlaubt. Nicht als ob
Lamartine absichtlich Thatsachen entstellte; das ist durchaus nicht anzunehmen.
Man wird sein Verfahren sich etwa so zu denken haben: Es stand ihm hin¬
sichtlich der Revolutionsgeschichte ein überreiches Material zu Gebote, bestehend
aus früheren Darstellungen, aus Memoiren, und, wenn wir nicht irren, aus
zahlreichen mündlichen Mittheilungen, die nur allzu leicht ins sagenhafte über-
gehen. Wie die Tradition die Geschichte dieses so nahe liegenden Zeitabschnittes
bereits überwuchert hat, das zeigt Sybels Geschichtswerk, dessen Hauptverdienst
grade in dem Ausscheiden des Mythus besteht. Aus diesem reichen Stoffe
wählt er aus. was ihm passend ist, nicht nach den Gesetzen der historischen
Kritik, sondern nach dem Bedürfniß seiner lebhaften und thätigen Phantasie,
die auch wohl productiv genug ist, eine Lücke, welche die Tradition gelassen hat,
weniger durch Verstandescombination, wie es ja dem Historiker innerhalb ge¬
wisser Grenzen gestattet ist, als durch einen Act genialer Production zu ergänzen.
So wird der Zusammenhang hergestellt -- und die Tradition weiter gebildet,
in ein System gebracht, und mit dem Zauber einer glänzenden und edlen Dar¬
stellung umgeben. Nicht minder tritt die Eigenthümlichkeit der lamartineschen
Weise in den zahlreichen Charakterschilderungen und psychologischen Reflexionen
(Entwickelungen können wir kaum sägen) hervor. Er besitzt weder den scharfen
historischen Blick, der mit unfehlbarer Sicherheit die politische Bedeutung der
Charaktere zu durchdringen und in dem Zusammenhang des Ganzen den Ma߬
stab für ihre individuelle Bedeutung zu finden weiß, noch auch die Gestaltungs¬
kraft, aus einer Fülle von Zügen ein einheitlich umgrenztes, plastisch faßbares
Gesammtbild herzustellen. Seine Gestalten sind nicht wie in Marmor gemeißelt,
kaum in festen Umrissen gezeichnet, sie find gemalt, allerdings mit glänzender
Farbenpracht^ aber in mehr genrehafter als historischer Weise. In gewisser
Beziehung erinnern seine Charakteristiken an Plutarch. Beide wollen interessant
für und sind es ^und wirklich, beide legen ein übergroßes Gewicht auf Einzel¬
heiten, besonders sogenannte Charakterzüge und lassen sich allzu leicht in ihrem
Gesammturtheil von dem Eindruck einzelner oft unzuverlässigen Quellen ent¬
nommener Züge beherrschen. Daher das Schwankende. Unsichere, Mosaikartige
ihrer Schilderungen. Auch das moralisirende Element tritt bei beiden hervor,
allerdings bei dein geiht- und phantastereichen, poetisch angeregten Franzosen in
durchaus andrer Weise, wie bei dem für seine Helden zwar warm empfindenden,
aber in seiner Philosophischen Reflexion doch etwas trocknem Ethiker des helle¬
nischen Epigonenthums, der kaum noch im Stande war zu denken und zu em-


schildert und beschreibt anschaulich und lebendig. Nach der thatsächlichen Be¬
gründung des Details darf man freilich nicht allzu genau fragen; man würde
auch in den wenigsten Fällen eine Antwort erhalten, da er seine Quellen selten
angiebt. Somit ist denn ein gelinder Zweifel an der Realität mancher er¬
greifenden Scene, mancher pikanten Verwickelung wohl erlaubt. Nicht als ob
Lamartine absichtlich Thatsachen entstellte; das ist durchaus nicht anzunehmen.
Man wird sein Verfahren sich etwa so zu denken haben: Es stand ihm hin¬
sichtlich der Revolutionsgeschichte ein überreiches Material zu Gebote, bestehend
aus früheren Darstellungen, aus Memoiren, und, wenn wir nicht irren, aus
zahlreichen mündlichen Mittheilungen, die nur allzu leicht ins sagenhafte über-
gehen. Wie die Tradition die Geschichte dieses so nahe liegenden Zeitabschnittes
bereits überwuchert hat, das zeigt Sybels Geschichtswerk, dessen Hauptverdienst
grade in dem Ausscheiden des Mythus besteht. Aus diesem reichen Stoffe
wählt er aus. was ihm passend ist, nicht nach den Gesetzen der historischen
Kritik, sondern nach dem Bedürfniß seiner lebhaften und thätigen Phantasie,
die auch wohl productiv genug ist, eine Lücke, welche die Tradition gelassen hat,
weniger durch Verstandescombination, wie es ja dem Historiker innerhalb ge¬
wisser Grenzen gestattet ist, als durch einen Act genialer Production zu ergänzen.
So wird der Zusammenhang hergestellt — und die Tradition weiter gebildet,
in ein System gebracht, und mit dem Zauber einer glänzenden und edlen Dar¬
stellung umgeben. Nicht minder tritt die Eigenthümlichkeit der lamartineschen
Weise in den zahlreichen Charakterschilderungen und psychologischen Reflexionen
(Entwickelungen können wir kaum sägen) hervor. Er besitzt weder den scharfen
historischen Blick, der mit unfehlbarer Sicherheit die politische Bedeutung der
Charaktere zu durchdringen und in dem Zusammenhang des Ganzen den Ma߬
stab für ihre individuelle Bedeutung zu finden weiß, noch auch die Gestaltungs¬
kraft, aus einer Fülle von Zügen ein einheitlich umgrenztes, plastisch faßbares
Gesammtbild herzustellen. Seine Gestalten sind nicht wie in Marmor gemeißelt,
kaum in festen Umrissen gezeichnet, sie find gemalt, allerdings mit glänzender
Farbenpracht^ aber in mehr genrehafter als historischer Weise. In gewisser
Beziehung erinnern seine Charakteristiken an Plutarch. Beide wollen interessant
für und sind es ^und wirklich, beide legen ein übergroßes Gewicht auf Einzel¬
heiten, besonders sogenannte Charakterzüge und lassen sich allzu leicht in ihrem
Gesammturtheil von dem Eindruck einzelner oft unzuverlässigen Quellen ent¬
nommener Züge beherrschen. Daher das Schwankende. Unsichere, Mosaikartige
ihrer Schilderungen. Auch das moralisirende Element tritt bei beiden hervor,
allerdings bei dein geiht- und phantastereichen, poetisch angeregten Franzosen in
durchaus andrer Weise, wie bei dem für seine Helden zwar warm empfindenden,
aber in seiner Philosophischen Reflexion doch etwas trocknem Ethiker des helle¬
nischen Epigonenthums, der kaum noch im Stande war zu denken und zu em-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0031" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/285057"/>
          <p xml:id="ID_38" prev="#ID_37" next="#ID_39"> schildert und beschreibt anschaulich und lebendig.  Nach der thatsächlichen Be¬<lb/>
gründung des Details darf man freilich nicht allzu genau fragen; man würde<lb/>
auch in den wenigsten Fällen eine Antwort erhalten, da er seine Quellen selten<lb/>
angiebt.  Somit ist denn ein gelinder Zweifel an der Realität mancher er¬<lb/>
greifenden Scene, mancher pikanten Verwickelung wohl erlaubt.  Nicht als ob<lb/>
Lamartine absichtlich Thatsachen entstellte; das ist durchaus nicht anzunehmen.<lb/>
Man wird sein Verfahren sich etwa so zu denken haben:  Es stand ihm hin¬<lb/>
sichtlich der Revolutionsgeschichte ein überreiches Material zu Gebote, bestehend<lb/>
aus früheren Darstellungen, aus Memoiren, und, wenn wir nicht irren, aus<lb/>
zahlreichen mündlichen Mittheilungen, die nur allzu leicht ins sagenhafte über-<lb/>
gehen. Wie die Tradition die Geschichte dieses so nahe liegenden Zeitabschnittes<lb/>
bereits überwuchert hat, das zeigt Sybels Geschichtswerk, dessen Hauptverdienst<lb/>
grade in dem Ausscheiden des Mythus besteht.  Aus diesem reichen Stoffe<lb/>
wählt er aus. was ihm passend ist, nicht nach den Gesetzen der historischen<lb/>
Kritik, sondern nach dem Bedürfniß seiner lebhaften und thätigen Phantasie,<lb/>
die auch wohl productiv genug ist, eine Lücke, welche die Tradition gelassen hat,<lb/>
weniger durch Verstandescombination, wie es ja dem Historiker innerhalb ge¬<lb/>
wisser Grenzen gestattet ist, als durch einen Act genialer Production zu ergänzen.<lb/>
So wird der Zusammenhang hergestellt &#x2014; und die Tradition weiter gebildet,<lb/>
in ein System gebracht, und mit dem Zauber einer glänzenden und edlen Dar¬<lb/>
stellung umgeben. Nicht minder tritt die Eigenthümlichkeit der lamartineschen<lb/>
Weise in den zahlreichen Charakterschilderungen und psychologischen Reflexionen<lb/>
(Entwickelungen können wir kaum sägen) hervor. Er besitzt weder den scharfen<lb/>
historischen Blick, der mit unfehlbarer Sicherheit die politische Bedeutung der<lb/>
Charaktere zu durchdringen und in dem Zusammenhang des Ganzen den Ma߬<lb/>
stab für ihre individuelle Bedeutung zu finden weiß, noch auch die Gestaltungs¬<lb/>
kraft, aus einer Fülle von Zügen ein einheitlich umgrenztes, plastisch faßbares<lb/>
Gesammtbild herzustellen. Seine Gestalten sind nicht wie in Marmor gemeißelt,<lb/>
kaum in festen Umrissen gezeichnet, sie find gemalt, allerdings mit glänzender<lb/>
Farbenpracht^ aber in mehr genrehafter als historischer Weise.  In gewisser<lb/>
Beziehung erinnern seine Charakteristiken an Plutarch. Beide wollen interessant<lb/>
für und sind es ^und wirklich, beide legen ein übergroßes Gewicht auf Einzel¬<lb/>
heiten, besonders sogenannte Charakterzüge und lassen sich allzu leicht in ihrem<lb/>
Gesammturtheil von dem Eindruck einzelner oft unzuverlässigen Quellen ent¬<lb/>
nommener Züge beherrschen.  Daher das Schwankende. Unsichere, Mosaikartige<lb/>
ihrer Schilderungen.  Auch das moralisirende Element tritt bei beiden hervor,<lb/>
allerdings bei dein geiht- und phantastereichen, poetisch angeregten Franzosen in<lb/>
durchaus andrer Weise, wie bei dem für seine Helden zwar warm empfindenden,<lb/>
aber in seiner Philosophischen Reflexion doch etwas trocknem Ethiker des helle¬<lb/>
nischen Epigonenthums, der kaum noch im Stande war zu denken und zu em-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0031] schildert und beschreibt anschaulich und lebendig. Nach der thatsächlichen Be¬ gründung des Details darf man freilich nicht allzu genau fragen; man würde auch in den wenigsten Fällen eine Antwort erhalten, da er seine Quellen selten angiebt. Somit ist denn ein gelinder Zweifel an der Realität mancher er¬ greifenden Scene, mancher pikanten Verwickelung wohl erlaubt. Nicht als ob Lamartine absichtlich Thatsachen entstellte; das ist durchaus nicht anzunehmen. Man wird sein Verfahren sich etwa so zu denken haben: Es stand ihm hin¬ sichtlich der Revolutionsgeschichte ein überreiches Material zu Gebote, bestehend aus früheren Darstellungen, aus Memoiren, und, wenn wir nicht irren, aus zahlreichen mündlichen Mittheilungen, die nur allzu leicht ins sagenhafte über- gehen. Wie die Tradition die Geschichte dieses so nahe liegenden Zeitabschnittes bereits überwuchert hat, das zeigt Sybels Geschichtswerk, dessen Hauptverdienst grade in dem Ausscheiden des Mythus besteht. Aus diesem reichen Stoffe wählt er aus. was ihm passend ist, nicht nach den Gesetzen der historischen Kritik, sondern nach dem Bedürfniß seiner lebhaften und thätigen Phantasie, die auch wohl productiv genug ist, eine Lücke, welche die Tradition gelassen hat, weniger durch Verstandescombination, wie es ja dem Historiker innerhalb ge¬ wisser Grenzen gestattet ist, als durch einen Act genialer Production zu ergänzen. So wird der Zusammenhang hergestellt — und die Tradition weiter gebildet, in ein System gebracht, und mit dem Zauber einer glänzenden und edlen Dar¬ stellung umgeben. Nicht minder tritt die Eigenthümlichkeit der lamartineschen Weise in den zahlreichen Charakterschilderungen und psychologischen Reflexionen (Entwickelungen können wir kaum sägen) hervor. Er besitzt weder den scharfen historischen Blick, der mit unfehlbarer Sicherheit die politische Bedeutung der Charaktere zu durchdringen und in dem Zusammenhang des Ganzen den Ma߬ stab für ihre individuelle Bedeutung zu finden weiß, noch auch die Gestaltungs¬ kraft, aus einer Fülle von Zügen ein einheitlich umgrenztes, plastisch faßbares Gesammtbild herzustellen. Seine Gestalten sind nicht wie in Marmor gemeißelt, kaum in festen Umrissen gezeichnet, sie find gemalt, allerdings mit glänzender Farbenpracht^ aber in mehr genrehafter als historischer Weise. In gewisser Beziehung erinnern seine Charakteristiken an Plutarch. Beide wollen interessant für und sind es ^und wirklich, beide legen ein übergroßes Gewicht auf Einzel¬ heiten, besonders sogenannte Charakterzüge und lassen sich allzu leicht in ihrem Gesammturtheil von dem Eindruck einzelner oft unzuverlässigen Quellen ent¬ nommener Züge beherrschen. Daher das Schwankende. Unsichere, Mosaikartige ihrer Schilderungen. Auch das moralisirende Element tritt bei beiden hervor, allerdings bei dein geiht- und phantastereichen, poetisch angeregten Franzosen in durchaus andrer Weise, wie bei dem für seine Helden zwar warm empfindenden, aber in seiner Philosophischen Reflexion doch etwas trocknem Ethiker des helle¬ nischen Epigonenthums, der kaum noch im Stande war zu denken und zu em-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/31
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/31>, abgerufen am 15.05.2024.