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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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sehr verschieden dargestellt ist, findet Bunsen, daß, was die evangelistische Ueber¬
lieferung schon andeute, durch den Jünger und Augen- und Ohrenzeugen Jo¬
hannes nur bestätigt und psychologisch erklärt werde. Da, wo nun einmal un-
läugbar Geschichtserzählung gegen Geschichtserzählung steht, geht überall die
Darstellung des "Augenzeugen" vor; er giebt den historischen Rahmen, in welchen
alle von den andern Erzählern berichteten Begebenheiten, wohl oder übel, sich
einreihen lassen müssen, und zwar behauptet Bunsen, "daß in den durch Jo¬
hannes gegebenen Rahmen die einzelnen evangelistischen Erzählungen sich soweit
chronologisch einordnen, als es der praktische Zweck des evangelistischen Unter¬
richts zuläßt, und daß wir allenthalben dasselbe Gesetz der Projection oder Ab¬
spiegelung der chronologischen Ordnung auf die katechetische Ordnung vorfinden."
In der Durchführung dieses angeblichen Gesetzes der Projection zeigt sich der
Scharfsinn des Verfassers auf seiner vollen Höhe, aber auch das ganze Ver¬
fahren in seiner Willkürlichkeit und Gewaltsamkeit. Die unglücklichen Synop¬
tiker haben es sich von jeher gefallen lassen müssen, daß die Harmonisten un¬
barmherzig ihre Erzählung zerrissen, um die einzelnen Stücke, wo es grade
passen mochte, in das Gefüge der johanneischen Darstellung einzureihen. Aber
daß dieses willkürliche Verfahren mit dem Schild eines "Gesetzes" gedeckt, daß
jedesmal nachgewiesen wird, daß grade so und nicht anders die Verschiebung
der einzelnen Stücke zum Zweck des katechetischen Unterrichts erfolgen mußte,
ist der Triumph der katholischen Ansicht vom Verhältniß der vier Evangelien!

Man weiß, daß das Bibelwerk, wenn es von der Kritik mit Kopsschütteln
aufgenommen wurde, nicht minder den Orthodoxen ein Greuel und Aergerniß
ist. Auch das Leben Jesu wird auf den Beifall der orthodoxen Kreise verzichten
müssen. Ist doch Bunsen -- immer abgesehen von der dogmatisch construirten
Persönlichkeit des Gottmenschen -- in der Wunderfrage genau so rationalistisch
wie Schleiermacher. Er will nichts wissen von "all den geistlosen hohlen Re¬
densarten von offenbarter Geschichte, von einzelnen Erzählungen über Bilccuns
Eselin und Josua's Gebot an die Sonne." Ader bei der Scheu, ehrlich und
offen dem religiösen Mythus sein Recht zu geben, gestaltet sich sein Widerspruch
gegen die Wundererzählungen -- genau wie bei Schleiermacher -- nur zu oft
zu einem Rückfall in die Wunderlichkeiten und Geschmacklosigkeiten des alten
Rationalismus. Man nehme z. B. seine Erklärung des Wunders zu Kana.
Von Mirakel keine Spur. Jesus hatte nur eine Ueberraschung vorbereitet durch
einen mitgebrachten Vorrath guten starken Weins. Diesen vertheilte er in die
draußen ausgeleerten und ausgespülten Wasserkrüge und ließ sie dann mit einer
allerdings ungewöhnlich großen Masse Wassers bis an den Rand füllen. Der
Zechmeister kostete den Wein, als er umgerührt war, pries das Getränk und
rief dem (wahrscheinlich gegenübergelagerten) Bräutigam die bekannten rühmenden
Worte zu, welche demselben ebenso erfreulich als überraschend sein mußten und


sehr verschieden dargestellt ist, findet Bunsen, daß, was die evangelistische Ueber¬
lieferung schon andeute, durch den Jünger und Augen- und Ohrenzeugen Jo¬
hannes nur bestätigt und psychologisch erklärt werde. Da, wo nun einmal un-
läugbar Geschichtserzählung gegen Geschichtserzählung steht, geht überall die
Darstellung des „Augenzeugen" vor; er giebt den historischen Rahmen, in welchen
alle von den andern Erzählern berichteten Begebenheiten, wohl oder übel, sich
einreihen lassen müssen, und zwar behauptet Bunsen, „daß in den durch Jo¬
hannes gegebenen Rahmen die einzelnen evangelistischen Erzählungen sich soweit
chronologisch einordnen, als es der praktische Zweck des evangelistischen Unter¬
richts zuläßt, und daß wir allenthalben dasselbe Gesetz der Projection oder Ab¬
spiegelung der chronologischen Ordnung auf die katechetische Ordnung vorfinden."
In der Durchführung dieses angeblichen Gesetzes der Projection zeigt sich der
Scharfsinn des Verfassers auf seiner vollen Höhe, aber auch das ganze Ver¬
fahren in seiner Willkürlichkeit und Gewaltsamkeit. Die unglücklichen Synop¬
tiker haben es sich von jeher gefallen lassen müssen, daß die Harmonisten un¬
barmherzig ihre Erzählung zerrissen, um die einzelnen Stücke, wo es grade
passen mochte, in das Gefüge der johanneischen Darstellung einzureihen. Aber
daß dieses willkürliche Verfahren mit dem Schild eines „Gesetzes" gedeckt, daß
jedesmal nachgewiesen wird, daß grade so und nicht anders die Verschiebung
der einzelnen Stücke zum Zweck des katechetischen Unterrichts erfolgen mußte,
ist der Triumph der katholischen Ansicht vom Verhältniß der vier Evangelien!

Man weiß, daß das Bibelwerk, wenn es von der Kritik mit Kopsschütteln
aufgenommen wurde, nicht minder den Orthodoxen ein Greuel und Aergerniß
ist. Auch das Leben Jesu wird auf den Beifall der orthodoxen Kreise verzichten
müssen. Ist doch Bunsen — immer abgesehen von der dogmatisch construirten
Persönlichkeit des Gottmenschen — in der Wunderfrage genau so rationalistisch
wie Schleiermacher. Er will nichts wissen von „all den geistlosen hohlen Re¬
densarten von offenbarter Geschichte, von einzelnen Erzählungen über Bilccuns
Eselin und Josua's Gebot an die Sonne." Ader bei der Scheu, ehrlich und
offen dem religiösen Mythus sein Recht zu geben, gestaltet sich sein Widerspruch
gegen die Wundererzählungen — genau wie bei Schleiermacher — nur zu oft
zu einem Rückfall in die Wunderlichkeiten und Geschmacklosigkeiten des alten
Rationalismus. Man nehme z. B. seine Erklärung des Wunders zu Kana.
Von Mirakel keine Spur. Jesus hatte nur eine Ueberraschung vorbereitet durch
einen mitgebrachten Vorrath guten starken Weins. Diesen vertheilte er in die
draußen ausgeleerten und ausgespülten Wasserkrüge und ließ sie dann mit einer
allerdings ungewöhnlich großen Masse Wassers bis an den Rand füllen. Der
Zechmeister kostete den Wein, als er umgerührt war, pries das Getränk und
rief dem (wahrscheinlich gegenübergelagerten) Bräutigam die bekannten rühmenden
Worte zu, welche demselben ebenso erfreulich als überraschend sein mußten und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/42>, abgerufen am 15.05.2024.