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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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Stimmung soll der auf solche Vorwürfe eines fremden Flugblattes blicken? Meint
der Verfasser, daß sie einen Eindruck machen? Der Preuße hat nichts dafür
als ein kaltes Lächeln.

Manches fehlt dem Preußen, was andere Deutsche reichlicher besitzen, aber
einen Vorzug hat er aus schwerer Zeit bewahrt: er hat das Bedürfniß und
das Recht, stolz zu sein auf seinen Staat, und er hat allmälig gelernt, nicht
nur dafür zu sterben, auch dafür zu leben. Der Streit der Opposition gegen
das System ist seit dem Sturz der neuen Aera nicht immer groß geführt worden,
denn das ist einer jungen Opposition schwer, welche heraufgewachsen ist im
Kampf gegen ein parteisüchtiges und kleinliches Regiment und in immer neuer
Erbitterung über Ungerechtigkeiten, welche sie zu verhindern nicht vermochte.
Aber das preußische Volk, welches der Opposition in scheinbar resultatlosen
Kämpfen ein festes Vertrauen bewahrte, ist nie zweifelhaft geworden, daß diese
Opposition in der Hauptsache immer Aufgabe und Politik des Staates
höher gefaßt hat, als die derzeitige Regierung.

Natürlich, daß diese Opposition auch dem Ausland ein inneres Leiden
Preußens verrieth, nicht unwahrscheinlich, daß sie den Feinden Preußens die
Ansicht gekräftigt hat, solcher innere Zwist könne mit Vortheil benutzt werden;
aber es geht doch über alle Logik auch des kühnsten Schlusses, welcher einem
deutschen Liberalen gestattet ist, für diese Manifestation eines großen Leiden
eine unbequeme Opposition verantwortlich zu machen.

Wenn man aber der Sache auf den Grund geht, so ist die letzte Differenz
zwischen den Auffassungen der preußischen Opposition und den Ansichten preu¬
ßischer Freunde außerhalb des Staates und einer kleinen Zahl verstimmter Alt¬
liberalen in Preußen thatsächlich eine Differenz über den politischen Werth einer
einzelnen Persönlichkeit. Darüber ist ein Ausgleich entgegengesetzter Auffassungen
nicht möglich, denn die Gründe dafür und dawider beruhen auf gemüthlichen Ein¬
drücken und auf zufälligen Sympathien und Antipathien, welche zwischen dem
Charakter des Urtheilenden und des Beurtheilten schweben.- Thatsache ist hier,
daß das preußische Volk das große Vertrauen, welches die genannte Flugschrift
für den preußischen Ministerpräsidenten fordert, zur Zeit noch entbehrt.

Aber der eifrige Freund, welcher Parteigenossen um eines alten Gegners
willen so behend anklagt, täuscht sich auch über die Zielpunkte der preußischen
Opposition. Nicht den Grafen Bismark will sie beseitigen, sondern das System.
Wenn er freilich einen Preußen frägt, wer und was dies System sei, so kann
er unverständliche Antwort erhalten. Das System ist kein Mensch, und auch
kein Princip; es ist nach Meinung der Preußen vielerlei: ein neuer Orden, das
Bein einer Tänzerin, zwei gefaltete Hände, die boshafte Bemerkung eines ver-,
dorbenen Individuums, es ist, so behaupten sie, Laune, Willkür, Zufall und
Zaudern, Einfall und Schwäche grade da, wo sie die höchste Energie und Cor-


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Stimmung soll der auf solche Vorwürfe eines fremden Flugblattes blicken? Meint
der Verfasser, daß sie einen Eindruck machen? Der Preuße hat nichts dafür
als ein kaltes Lächeln.

Manches fehlt dem Preußen, was andere Deutsche reichlicher besitzen, aber
einen Vorzug hat er aus schwerer Zeit bewahrt: er hat das Bedürfniß und
das Recht, stolz zu sein auf seinen Staat, und er hat allmälig gelernt, nicht
nur dafür zu sterben, auch dafür zu leben. Der Streit der Opposition gegen
das System ist seit dem Sturz der neuen Aera nicht immer groß geführt worden,
denn das ist einer jungen Opposition schwer, welche heraufgewachsen ist im
Kampf gegen ein parteisüchtiges und kleinliches Regiment und in immer neuer
Erbitterung über Ungerechtigkeiten, welche sie zu verhindern nicht vermochte.
Aber das preußische Volk, welches der Opposition in scheinbar resultatlosen
Kämpfen ein festes Vertrauen bewahrte, ist nie zweifelhaft geworden, daß diese
Opposition in der Hauptsache immer Aufgabe und Politik des Staates
höher gefaßt hat, als die derzeitige Regierung.

Natürlich, daß diese Opposition auch dem Ausland ein inneres Leiden
Preußens verrieth, nicht unwahrscheinlich, daß sie den Feinden Preußens die
Ansicht gekräftigt hat, solcher innere Zwist könne mit Vortheil benutzt werden;
aber es geht doch über alle Logik auch des kühnsten Schlusses, welcher einem
deutschen Liberalen gestattet ist, für diese Manifestation eines großen Leiden
eine unbequeme Opposition verantwortlich zu machen.

Wenn man aber der Sache auf den Grund geht, so ist die letzte Differenz
zwischen den Auffassungen der preußischen Opposition und den Ansichten preu¬
ßischer Freunde außerhalb des Staates und einer kleinen Zahl verstimmter Alt¬
liberalen in Preußen thatsächlich eine Differenz über den politischen Werth einer
einzelnen Persönlichkeit. Darüber ist ein Ausgleich entgegengesetzter Auffassungen
nicht möglich, denn die Gründe dafür und dawider beruhen auf gemüthlichen Ein¬
drücken und auf zufälligen Sympathien und Antipathien, welche zwischen dem
Charakter des Urtheilenden und des Beurtheilten schweben.- Thatsache ist hier,
daß das preußische Volk das große Vertrauen, welches die genannte Flugschrift
für den preußischen Ministerpräsidenten fordert, zur Zeit noch entbehrt.

Aber der eifrige Freund, welcher Parteigenossen um eines alten Gegners
willen so behend anklagt, täuscht sich auch über die Zielpunkte der preußischen
Opposition. Nicht den Grafen Bismark will sie beseitigen, sondern das System.
Wenn er freilich einen Preußen frägt, wer und was dies System sei, so kann
er unverständliche Antwort erhalten. Das System ist kein Mensch, und auch
kein Princip; es ist nach Meinung der Preußen vielerlei: ein neuer Orden, das
Bein einer Tänzerin, zwei gefaltete Hände, die boshafte Bemerkung eines ver-,
dorbenen Individuums, es ist, so behaupten sie, Laune, Willkür, Zufall und
Zaudern, Einfall und Schwäche grade da, wo sie die höchste Energie und Cor-


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[0433] Stimmung soll der auf solche Vorwürfe eines fremden Flugblattes blicken? Meint der Verfasser, daß sie einen Eindruck machen? Der Preuße hat nichts dafür als ein kaltes Lächeln. Manches fehlt dem Preußen, was andere Deutsche reichlicher besitzen, aber einen Vorzug hat er aus schwerer Zeit bewahrt: er hat das Bedürfniß und das Recht, stolz zu sein auf seinen Staat, und er hat allmälig gelernt, nicht nur dafür zu sterben, auch dafür zu leben. Der Streit der Opposition gegen das System ist seit dem Sturz der neuen Aera nicht immer groß geführt worden, denn das ist einer jungen Opposition schwer, welche heraufgewachsen ist im Kampf gegen ein parteisüchtiges und kleinliches Regiment und in immer neuer Erbitterung über Ungerechtigkeiten, welche sie zu verhindern nicht vermochte. Aber das preußische Volk, welches der Opposition in scheinbar resultatlosen Kämpfen ein festes Vertrauen bewahrte, ist nie zweifelhaft geworden, daß diese Opposition in der Hauptsache immer Aufgabe und Politik des Staates höher gefaßt hat, als die derzeitige Regierung. Natürlich, daß diese Opposition auch dem Ausland ein inneres Leiden Preußens verrieth, nicht unwahrscheinlich, daß sie den Feinden Preußens die Ansicht gekräftigt hat, solcher innere Zwist könne mit Vortheil benutzt werden; aber es geht doch über alle Logik auch des kühnsten Schlusses, welcher einem deutschen Liberalen gestattet ist, für diese Manifestation eines großen Leiden eine unbequeme Opposition verantwortlich zu machen. Wenn man aber der Sache auf den Grund geht, so ist die letzte Differenz zwischen den Auffassungen der preußischen Opposition und den Ansichten preu¬ ßischer Freunde außerhalb des Staates und einer kleinen Zahl verstimmter Alt¬ liberalen in Preußen thatsächlich eine Differenz über den politischen Werth einer einzelnen Persönlichkeit. Darüber ist ein Ausgleich entgegengesetzter Auffassungen nicht möglich, denn die Gründe dafür und dawider beruhen auf gemüthlichen Ein¬ drücken und auf zufälligen Sympathien und Antipathien, welche zwischen dem Charakter des Urtheilenden und des Beurtheilten schweben.- Thatsache ist hier, daß das preußische Volk das große Vertrauen, welches die genannte Flugschrift für den preußischen Ministerpräsidenten fordert, zur Zeit noch entbehrt. Aber der eifrige Freund, welcher Parteigenossen um eines alten Gegners willen so behend anklagt, täuscht sich auch über die Zielpunkte der preußischen Opposition. Nicht den Grafen Bismark will sie beseitigen, sondern das System. Wenn er freilich einen Preußen frägt, wer und was dies System sei, so kann er unverständliche Antwort erhalten. Das System ist kein Mensch, und auch kein Princip; es ist nach Meinung der Preußen vielerlei: ein neuer Orden, das Bein einer Tänzerin, zwei gefaltete Hände, die boshafte Bemerkung eines ver-, dorbenen Individuums, es ist, so behaupten sie, Laune, Willkür, Zufall und Zaudern, Einfall und Schwäche grade da, wo sie die höchste Energie und Cor- 81/

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/433>, abgerufen am 31.05.2024.