Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Richard erobert Anna, sie an den weiblichen Schwächen der Eitelkeit und Gut¬
müthigkeit geschickt anfassend, ohne sie darum, da sie ja keinen glücklichen Augen¬
blick bei ihm haben soll, so zu sagen mit Haut und Haaren sich zu eigen zu
machen. Und .Katharina Märe nur in dem Falle gar nicht zu ziehen, wenn
Petruccio nicht in ihrer Liebesbedürftigkeit, der er mit seiner Bonhomie bei¬
zukommen vermag, einen Anknüpfungspunkt für seine Wundercur hätte.

In den historischen Dramen aus der englischen und antiken Geschichte
sind es neben einzelnen Verstößen gegen die psychologische Treue hauptsächlich
Verstöße gegen die geschichtliche Treue, die von unserem Kritiker gerügt werden.
Wir geben im Allgemeinen zu, daß auf diesem Gebiete noch Manches disputabel
ist und die Anregungen des Verfassers nicht ohne Verdienst sind. Aber leider
spricht er sich nicht immer genau und nicht immer gleichmäßig darüber aus,
wie groß er bei den von ihm aufgezählten Abweichungen Shakespeares von
dem thatsächlichen Bestand und Hergang die eigentlich poetische Schuld des
Dichters finde. Gewiß jedoch wird man ihn nicht davon frei sprechen können,
daß er hier und da dem Darsteller seine Verfehlungen gegen die Geschichts¬
wahrheit, z. B. das Unrecht an den "Bogenschützen von Agincourt", zu hoch
anrechnet und überhaupt nicht gehörig den Umfang würdigt, den in dieser Hinsicht
die freie Bewegung des Dichters hat; sowie es den etwas individuellen Maßstab
des nicht überall hingehörigen historischen Schulsacks anlegen heißt, wenn schon
eine wesentliche Beeinträchtigung der poetischen Illusion durch geschichtswidrige
Uuwahrscheinlichkciten, wie sie z. B. Wohl im Coriolan mit Recht hervor¬
gehoben sind, befürchtet wird. Gegen die, wenn sie begründet wären, gewich¬
tigeren Gravamina in der prahlerischer Haltung des Julius Cäsar ver¬
weisen wir auf die Antwort, die Gervinus auf die sonst schon vorgebrachten
Einwürfe (Shakespeare 4, 74 ff.) überhaupt gegeben hat. Und das Unwahr¬
scheinliche der schnellen Wiederversöhnung des Cassius in der Zankscene mit
Brutus wird gleichfalls wahrscheinlicher, wenn man bedenkt, daß die Insulte
des Brutus unter vier Augen vorgekommen sind und nicht vor Zeugen, und
daß die echte Freundschaft von ihrem Besitze des Frcundesherzens trotz der
heftigsten Zusammenstöße des Augenblicks sich versichert halten kann. Ein
Anderes ist es mit dem Widerwillen unseres Verfassers gegen den Timon
von Athen. Derselbe ruht auf einem richtigen Jnstincte; nur möchten wir
die Vorwürfe der Ungeschicklichkeit, da Timon offenbar das selbstmörderische
Extrem des CyrenaiSmus, Agcmantus den Cynismus repräsentirt, in den allge¬
meineren Vorwurf der Farb-, Zeit- und Ortlosigteit, d. h. der ganzen unconcreten
Situation und undramatischen Handlung dieser halben Komödie und halben
Lehrgedichts umsetzen, womit das Stück nicht sowohl von Seiten der losen Com-
posttion, wie es vom Verfasser geschieht, als von Seiten seines besondern Genres,
wegen seiner unpoetischen Lehrhastigkeit, in Anspruch genommen werden soll.


Richard erobert Anna, sie an den weiblichen Schwächen der Eitelkeit und Gut¬
müthigkeit geschickt anfassend, ohne sie darum, da sie ja keinen glücklichen Augen¬
blick bei ihm haben soll, so zu sagen mit Haut und Haaren sich zu eigen zu
machen. Und .Katharina Märe nur in dem Falle gar nicht zu ziehen, wenn
Petruccio nicht in ihrer Liebesbedürftigkeit, der er mit seiner Bonhomie bei¬
zukommen vermag, einen Anknüpfungspunkt für seine Wundercur hätte.

In den historischen Dramen aus der englischen und antiken Geschichte
sind es neben einzelnen Verstößen gegen die psychologische Treue hauptsächlich
Verstöße gegen die geschichtliche Treue, die von unserem Kritiker gerügt werden.
Wir geben im Allgemeinen zu, daß auf diesem Gebiete noch Manches disputabel
ist und die Anregungen des Verfassers nicht ohne Verdienst sind. Aber leider
spricht er sich nicht immer genau und nicht immer gleichmäßig darüber aus,
wie groß er bei den von ihm aufgezählten Abweichungen Shakespeares von
dem thatsächlichen Bestand und Hergang die eigentlich poetische Schuld des
Dichters finde. Gewiß jedoch wird man ihn nicht davon frei sprechen können,
daß er hier und da dem Darsteller seine Verfehlungen gegen die Geschichts¬
wahrheit, z. B. das Unrecht an den „Bogenschützen von Agincourt", zu hoch
anrechnet und überhaupt nicht gehörig den Umfang würdigt, den in dieser Hinsicht
die freie Bewegung des Dichters hat; sowie es den etwas individuellen Maßstab
des nicht überall hingehörigen historischen Schulsacks anlegen heißt, wenn schon
eine wesentliche Beeinträchtigung der poetischen Illusion durch geschichtswidrige
Uuwahrscheinlichkciten, wie sie z. B. Wohl im Coriolan mit Recht hervor¬
gehoben sind, befürchtet wird. Gegen die, wenn sie begründet wären, gewich¬
tigeren Gravamina in der prahlerischer Haltung des Julius Cäsar ver¬
weisen wir auf die Antwort, die Gervinus auf die sonst schon vorgebrachten
Einwürfe (Shakespeare 4, 74 ff.) überhaupt gegeben hat. Und das Unwahr¬
scheinliche der schnellen Wiederversöhnung des Cassius in der Zankscene mit
Brutus wird gleichfalls wahrscheinlicher, wenn man bedenkt, daß die Insulte
des Brutus unter vier Augen vorgekommen sind und nicht vor Zeugen, und
daß die echte Freundschaft von ihrem Besitze des Frcundesherzens trotz der
heftigsten Zusammenstöße des Augenblicks sich versichert halten kann. Ein
Anderes ist es mit dem Widerwillen unseres Verfassers gegen den Timon
von Athen. Derselbe ruht auf einem richtigen Jnstincte; nur möchten wir
die Vorwürfe der Ungeschicklichkeit, da Timon offenbar das selbstmörderische
Extrem des CyrenaiSmus, Agcmantus den Cynismus repräsentirt, in den allge¬
meineren Vorwurf der Farb-, Zeit- und Ortlosigteit, d. h. der ganzen unconcreten
Situation und undramatischen Handlung dieser halben Komödie und halben
Lehrgedichts umsetzen, womit das Stück nicht sowohl von Seiten der losen Com-
posttion, wie es vom Verfasser geschieht, als von Seiten seines besondern Genres,
wegen seiner unpoetischen Lehrhastigkeit, in Anspruch genommen werden soll.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0062" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/285088"/>
          <p xml:id="ID_106" prev="#ID_105"> Richard erobert Anna, sie an den weiblichen Schwächen der Eitelkeit und Gut¬<lb/>
müthigkeit geschickt anfassend, ohne sie darum, da sie ja keinen glücklichen Augen¬<lb/>
blick bei ihm haben soll, so zu sagen mit Haut und Haaren sich zu eigen zu<lb/>
machen. Und .Katharina Märe nur in dem Falle gar nicht zu ziehen, wenn<lb/>
Petruccio nicht in ihrer Liebesbedürftigkeit, der er mit seiner Bonhomie bei¬<lb/>
zukommen vermag, einen Anknüpfungspunkt für seine Wundercur hätte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_107"> In den historischen Dramen aus der englischen und antiken Geschichte<lb/>
sind es neben einzelnen Verstößen gegen die psychologische Treue hauptsächlich<lb/>
Verstöße gegen die geschichtliche Treue, die von unserem Kritiker gerügt werden.<lb/>
Wir geben im Allgemeinen zu, daß auf diesem Gebiete noch Manches disputabel<lb/>
ist und die Anregungen des Verfassers nicht ohne Verdienst sind. Aber leider<lb/>
spricht er sich nicht immer genau und nicht immer gleichmäßig darüber aus,<lb/>
wie groß er bei den von ihm aufgezählten Abweichungen Shakespeares von<lb/>
dem thatsächlichen Bestand und Hergang die eigentlich poetische Schuld des<lb/>
Dichters finde. Gewiß jedoch wird man ihn nicht davon frei sprechen können,<lb/>
daß er hier und da dem Darsteller seine Verfehlungen gegen die Geschichts¬<lb/>
wahrheit, z. B. das Unrecht an den &#x201E;Bogenschützen von Agincourt", zu hoch<lb/>
anrechnet und überhaupt nicht gehörig den Umfang würdigt, den in dieser Hinsicht<lb/>
die freie Bewegung des Dichters hat; sowie es den etwas individuellen Maßstab<lb/>
des nicht überall hingehörigen historischen Schulsacks anlegen heißt, wenn schon<lb/>
eine wesentliche Beeinträchtigung der poetischen Illusion durch geschichtswidrige<lb/>
Uuwahrscheinlichkciten, wie sie z. B. Wohl im Coriolan mit Recht hervor¬<lb/>
gehoben sind, befürchtet wird. Gegen die, wenn sie begründet wären, gewich¬<lb/>
tigeren Gravamina in der prahlerischer Haltung des Julius Cäsar ver¬<lb/>
weisen wir auf die Antwort, die Gervinus auf die sonst schon vorgebrachten<lb/>
Einwürfe (Shakespeare 4, 74 ff.) überhaupt gegeben hat. Und das Unwahr¬<lb/>
scheinliche der schnellen Wiederversöhnung des Cassius in der Zankscene mit<lb/>
Brutus wird gleichfalls wahrscheinlicher, wenn man bedenkt, daß die Insulte<lb/>
des Brutus unter vier Augen vorgekommen sind und nicht vor Zeugen, und<lb/>
daß die echte Freundschaft von ihrem Besitze des Frcundesherzens trotz der<lb/>
heftigsten Zusammenstöße des Augenblicks sich versichert halten kann. Ein<lb/>
Anderes ist es mit dem Widerwillen unseres Verfassers gegen den Timon<lb/>
von Athen. Derselbe ruht auf einem richtigen Jnstincte; nur möchten wir<lb/>
die Vorwürfe der Ungeschicklichkeit, da Timon offenbar das selbstmörderische<lb/>
Extrem des CyrenaiSmus, Agcmantus den Cynismus repräsentirt, in den allge¬<lb/>
meineren Vorwurf der Farb-, Zeit- und Ortlosigteit, d. h. der ganzen unconcreten<lb/>
Situation und undramatischen Handlung dieser halben Komödie und halben<lb/>
Lehrgedichts umsetzen, womit das Stück nicht sowohl von Seiten der losen Com-<lb/>
posttion, wie es vom Verfasser geschieht, als von Seiten seines besondern Genres,<lb/>
wegen seiner unpoetischen Lehrhastigkeit, in Anspruch genommen werden soll.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0062] Richard erobert Anna, sie an den weiblichen Schwächen der Eitelkeit und Gut¬ müthigkeit geschickt anfassend, ohne sie darum, da sie ja keinen glücklichen Augen¬ blick bei ihm haben soll, so zu sagen mit Haut und Haaren sich zu eigen zu machen. Und .Katharina Märe nur in dem Falle gar nicht zu ziehen, wenn Petruccio nicht in ihrer Liebesbedürftigkeit, der er mit seiner Bonhomie bei¬ zukommen vermag, einen Anknüpfungspunkt für seine Wundercur hätte. In den historischen Dramen aus der englischen und antiken Geschichte sind es neben einzelnen Verstößen gegen die psychologische Treue hauptsächlich Verstöße gegen die geschichtliche Treue, die von unserem Kritiker gerügt werden. Wir geben im Allgemeinen zu, daß auf diesem Gebiete noch Manches disputabel ist und die Anregungen des Verfassers nicht ohne Verdienst sind. Aber leider spricht er sich nicht immer genau und nicht immer gleichmäßig darüber aus, wie groß er bei den von ihm aufgezählten Abweichungen Shakespeares von dem thatsächlichen Bestand und Hergang die eigentlich poetische Schuld des Dichters finde. Gewiß jedoch wird man ihn nicht davon frei sprechen können, daß er hier und da dem Darsteller seine Verfehlungen gegen die Geschichts¬ wahrheit, z. B. das Unrecht an den „Bogenschützen von Agincourt", zu hoch anrechnet und überhaupt nicht gehörig den Umfang würdigt, den in dieser Hinsicht die freie Bewegung des Dichters hat; sowie es den etwas individuellen Maßstab des nicht überall hingehörigen historischen Schulsacks anlegen heißt, wenn schon eine wesentliche Beeinträchtigung der poetischen Illusion durch geschichtswidrige Uuwahrscheinlichkciten, wie sie z. B. Wohl im Coriolan mit Recht hervor¬ gehoben sind, befürchtet wird. Gegen die, wenn sie begründet wären, gewich¬ tigeren Gravamina in der prahlerischer Haltung des Julius Cäsar ver¬ weisen wir auf die Antwort, die Gervinus auf die sonst schon vorgebrachten Einwürfe (Shakespeare 4, 74 ff.) überhaupt gegeben hat. Und das Unwahr¬ scheinliche der schnellen Wiederversöhnung des Cassius in der Zankscene mit Brutus wird gleichfalls wahrscheinlicher, wenn man bedenkt, daß die Insulte des Brutus unter vier Augen vorgekommen sind und nicht vor Zeugen, und daß die echte Freundschaft von ihrem Besitze des Frcundesherzens trotz der heftigsten Zusammenstöße des Augenblicks sich versichert halten kann. Ein Anderes ist es mit dem Widerwillen unseres Verfassers gegen den Timon von Athen. Derselbe ruht auf einem richtigen Jnstincte; nur möchten wir die Vorwürfe der Ungeschicklichkeit, da Timon offenbar das selbstmörderische Extrem des CyrenaiSmus, Agcmantus den Cynismus repräsentirt, in den allge¬ meineren Vorwurf der Farb-, Zeit- und Ortlosigteit, d. h. der ganzen unconcreten Situation und undramatischen Handlung dieser halben Komödie und halben Lehrgedichts umsetzen, womit das Stück nicht sowohl von Seiten der losen Com- posttion, wie es vom Verfasser geschieht, als von Seiten seines besondern Genres, wegen seiner unpoetischen Lehrhastigkeit, in Anspruch genommen werden soll.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/62
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/62>, abgerufen am 31.05.2024.