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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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Es ist ein allgemeiner Schluß, den unsere Kritik auf Grund der angeblich
nachweisbaren Mängel der shakespeareschen Motivirung in Handlung und
Charakteren auf des Dichters Begabung ziehen zu dürfen glaubt. Nach S. S3 ff.
besaß er den Weltvcrstand. mittelst dessen eine durch innere und äußere Wahr¬
scheinlichkeit und durch den Schein von Nothwendigkeit uns befriedigende dra¬
matische Handlung erfunden und durchgeführt wird, nur in mittlerem Grade.
Besonders habe ihm die Einsicht in den Causalnexus. der den Gang der mensch¬
lichen Dinge bis ins Einzelste bestimmt, gefehlt. Er leite auch in weit stärke¬
rem Maße die Handlung aus den Charakteren ab, als die Erfahrung zeige; er
leihe dem Menschen ein unbedingteres, maßloseres Handeln, als der Realist
zugeben könne. Erziele hiermit Shakespeare eine ungeheure dramatische Wir¬
kung, während Goethe mit seinem regelrechteren Pragmatismus in seinen han¬
delnden Charakteren sich gefallen lassen müsse, einem Theil seiner Leser matt
und abgeblaßt in seiner Charakterzeichnung zu erscheinen, so sei der Grund
davon nur darin zu suchen, daß der Eine aus seinem Schatze mehr innerer
als äußerer Erfahrungen heraus die psychologischen UrPhänomene, wie sie in
solcher Reinheit und Stärke im Leben nicht vorkommen, aber Effect machen, der
Andere aus seiner Weltkenntnis) heraus die complicirteren Gebilde des realen,
gesellschaftlichen Lebens mit ihrem Reiz für engere Bildungskreise zeichne. --
Eine Darstellung der Sachlage, die aus einem Uebersehen der specifischen Lei-
stung des Dramatikers beruht. Der Weltverstand, in dem, wie wir gegen den
Verfasser nachgewiesen haben. Shakespeare nicht zu kurz gekommen ist, bedingt
erst den Epiker, und erweist sich Goethe als vorzüglich damit begabt, so stimmt
vies mit seinem vorwiegenden Werth als Epiker überein. Zum Dramatiker
gehört noch und gehört hauptsächlich ein Anderes, ein Zuhausesein in dem
sturmgepeitschten, durch Agentien und Reagentien der Innen- und Außenwelt auf-
gewühlten Meere der Leidenschaft. Der echte Dramatiker hat nicht die Wirk¬
lichkeit, sondern die Wahrheit des Seelenlebens darzustellen, hat nicht einfach
in beschreiben, wie es im Gemüth, und sei es auch im gebildetsten Gemüth,
und im realen Leben aussehe, sondern er hat in die ungeheure Tiefe der Affectö-
seite des Menschen hinabzuleuchten und aufzuzeigen. wessen ein Mensch sähig ist;
" muß. um das ganze Menschenwesen und die ganze Mcuschentiefe vorzuführen,
die Menschhert rü der Action. in der Bewegung, im heißen Kampf mit sich und
mit der Außenwelt, er muß Schicksal und Charakter im Wirken und Gegen-
wirken gegen einander vorführen. Der Realismus, der von unserem Kritiker
der shakespeareschen Gestaltenwelt abgesprochen wird, kommt ihr allerdings in
dem empirischen Sinn, rü dem ihn die goetheschen Seelengemälde, die goethe-
sehen Dramenrollen, die sich in ihrer, oft recht schönen und erhebenden Wirk¬
lichkeit selber vor uns malen, nicht zu. aber rü dem idealen Sinne, daß nur
aus Shakespeare die Ganzheit und Tiefe des Menschenthums erkannt und


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Es ist ein allgemeiner Schluß, den unsere Kritik auf Grund der angeblich
nachweisbaren Mängel der shakespeareschen Motivirung in Handlung und
Charakteren auf des Dichters Begabung ziehen zu dürfen glaubt. Nach S. S3 ff.
besaß er den Weltvcrstand. mittelst dessen eine durch innere und äußere Wahr¬
scheinlichkeit und durch den Schein von Nothwendigkeit uns befriedigende dra¬
matische Handlung erfunden und durchgeführt wird, nur in mittlerem Grade.
Besonders habe ihm die Einsicht in den Causalnexus. der den Gang der mensch¬
lichen Dinge bis ins Einzelste bestimmt, gefehlt. Er leite auch in weit stärke¬
rem Maße die Handlung aus den Charakteren ab, als die Erfahrung zeige; er
leihe dem Menschen ein unbedingteres, maßloseres Handeln, als der Realist
zugeben könne. Erziele hiermit Shakespeare eine ungeheure dramatische Wir¬
kung, während Goethe mit seinem regelrechteren Pragmatismus in seinen han¬
delnden Charakteren sich gefallen lassen müsse, einem Theil seiner Leser matt
und abgeblaßt in seiner Charakterzeichnung zu erscheinen, so sei der Grund
davon nur darin zu suchen, daß der Eine aus seinem Schatze mehr innerer
als äußerer Erfahrungen heraus die psychologischen UrPhänomene, wie sie in
solcher Reinheit und Stärke im Leben nicht vorkommen, aber Effect machen, der
Andere aus seiner Weltkenntnis) heraus die complicirteren Gebilde des realen,
gesellschaftlichen Lebens mit ihrem Reiz für engere Bildungskreise zeichne. —
Eine Darstellung der Sachlage, die aus einem Uebersehen der specifischen Lei-
stung des Dramatikers beruht. Der Weltverstand, in dem, wie wir gegen den
Verfasser nachgewiesen haben. Shakespeare nicht zu kurz gekommen ist, bedingt
erst den Epiker, und erweist sich Goethe als vorzüglich damit begabt, so stimmt
vies mit seinem vorwiegenden Werth als Epiker überein. Zum Dramatiker
gehört noch und gehört hauptsächlich ein Anderes, ein Zuhausesein in dem
sturmgepeitschten, durch Agentien und Reagentien der Innen- und Außenwelt auf-
gewühlten Meere der Leidenschaft. Der echte Dramatiker hat nicht die Wirk¬
lichkeit, sondern die Wahrheit des Seelenlebens darzustellen, hat nicht einfach
in beschreiben, wie es im Gemüth, und sei es auch im gebildetsten Gemüth,
und im realen Leben aussehe, sondern er hat in die ungeheure Tiefe der Affectö-
seite des Menschen hinabzuleuchten und aufzuzeigen. wessen ein Mensch sähig ist;
" muß. um das ganze Menschenwesen und die ganze Mcuschentiefe vorzuführen,
die Menschhert rü der Action. in der Bewegung, im heißen Kampf mit sich und
mit der Außenwelt, er muß Schicksal und Charakter im Wirken und Gegen-
wirken gegen einander vorführen. Der Realismus, der von unserem Kritiker
der shakespeareschen Gestaltenwelt abgesprochen wird, kommt ihr allerdings in
dem empirischen Sinn, rü dem ihn die goetheschen Seelengemälde, die goethe-
sehen Dramenrollen, die sich in ihrer, oft recht schönen und erhebenden Wirk¬
lichkeit selber vor uns malen, nicht zu. aber rü dem idealen Sinne, daß nur
aus Shakespeare die Ganzheit und Tiefe des Menschenthums erkannt und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/63>, abgerufen am 15.05.2024.