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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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auch eine verbesserte und erhöhte Theilnahme der Gemeinde am Kirchengesang.
Dafür wieder hielt er aber eine Reform unserer Gesangbücher für dringend
geboten, und es ist ebenso unbekannt, wie angenommen werden darf, als in¬
teressant, daß er selbst wenigstens zu seinem eigenen Bedürfniß factisch Hand
an das Werk legte. Es exisuri eine Reihe von älteren Kirchcngesängen sowohl
aus dem Mittelalter selbst wie aus den früheren Perioden unserer protestantischen
Liederdichtung, die er entweder übersetzend aus den lateinischen Originalen um-
dichtcte, oder wenn sie unserer eigenen Sprache angehörten, umarbeitete, wie
er sie für das wahre Geistesbedürfniß dieser Zeit passend hielt. Er beachtete
dabei nicht blos die Form, sondern ebenso sehr den Inhalt. Er war viel zu
freien Geistes und zugleich auch viel zu sehr von der Würde seiner eigenen
Kunst und deren Bedeutung für die Nation erfüllt, als daß er jene blos buch¬
stabengläubigen Reformationsversuche unserer Hymnologie für etwas Anderes
als für Liebhabereien und Spielereien von Antiquaren gehalten hätte, denen
keine poetische Bedeutung beizulegen sei. Auf der andern Seite aber ärgerte er sich,
wie er selbst oft äußerte, wenigstens jeden Sonntag an der grenzenlosen Flachheit,
Seichtigkeit und Trivialität des Hauptbestandthcils unserer Gesangbücher, denen
er euren großen Theil der Schuld an der Verbreitung der gleichen Eigenschaften
im Geschmacke unseres Volkes beimaß. Das Gesangbuch ersetzte diesem, wie
er wohl einsah und es auch als einmal bestehende Thatsache passiren ließ, die
gesammte poetische Literatur höheren Stiles, und ebendeshalb sollte es auch
wirtlich dieses seines hohen Berufes würdiger ausgestattet werden, als es durch¬
gehende der Fall ist. Einige Anfänge zum Bessern erkannte er in den neuen
würtembergischen und bayrischen Gesangbüchern, doch war er mit dem specifisch-
dogmatischen Gesichtspunkt wenigstens des letzteren keineswegs einverstanden.

Rückert war stets ein guter Protestant im echtesten Sinne des Wortes.
Niemals hat er irgendeinen Zug nach der Romantik der katholischen Kirche in
sich empfunden, wie so mancher seiner älteren und gleichzeitigen Genossen in
der Kunst und im Leben. Alberne Faseleien, die auch hierin die wahre
Gestalt des Mannes zu entstellen suchten, sind längst vergessen, wie sie es ver¬
diene". Sie waren überhaupt nicht bösartig gemeint, sondern grade das
Gegentheil davon. Sie gehörten einer Periode an, wo es manchen als Zeichen
eines besonders feinen Geschmackes und einer Extrasublimität des Geistes galt,
wenn sie katholisch wurden oder sich wenigstens so geberdeten, als seien sie es
geworden. Jeder unfreundliche, oder gar herbe Gegensatz gegen die ältere Kirche
war ihm aber völlig fremd. Auch hier wirkte die Gewöhnung der Jugend
vielleicht ebenso sehr wie die Erhabenheit seines geistigen Standpunktes. In
seiner Heimath war grade in jener Periode die vollkommenste Parität und
Toleranz der beiden Konfessionen zwar noch nicht ein Fundamentalsatz der staat¬
lichen Gesetzgebung, aber desto mehr schon in die Wirklichkeit der Zustände


auch eine verbesserte und erhöhte Theilnahme der Gemeinde am Kirchengesang.
Dafür wieder hielt er aber eine Reform unserer Gesangbücher für dringend
geboten, und es ist ebenso unbekannt, wie angenommen werden darf, als in¬
teressant, daß er selbst wenigstens zu seinem eigenen Bedürfniß factisch Hand
an das Werk legte. Es exisuri eine Reihe von älteren Kirchcngesängen sowohl
aus dem Mittelalter selbst wie aus den früheren Perioden unserer protestantischen
Liederdichtung, die er entweder übersetzend aus den lateinischen Originalen um-
dichtcte, oder wenn sie unserer eigenen Sprache angehörten, umarbeitete, wie
er sie für das wahre Geistesbedürfniß dieser Zeit passend hielt. Er beachtete
dabei nicht blos die Form, sondern ebenso sehr den Inhalt. Er war viel zu
freien Geistes und zugleich auch viel zu sehr von der Würde seiner eigenen
Kunst und deren Bedeutung für die Nation erfüllt, als daß er jene blos buch¬
stabengläubigen Reformationsversuche unserer Hymnologie für etwas Anderes
als für Liebhabereien und Spielereien von Antiquaren gehalten hätte, denen
keine poetische Bedeutung beizulegen sei. Auf der andern Seite aber ärgerte er sich,
wie er selbst oft äußerte, wenigstens jeden Sonntag an der grenzenlosen Flachheit,
Seichtigkeit und Trivialität des Hauptbestandthcils unserer Gesangbücher, denen
er euren großen Theil der Schuld an der Verbreitung der gleichen Eigenschaften
im Geschmacke unseres Volkes beimaß. Das Gesangbuch ersetzte diesem, wie
er wohl einsah und es auch als einmal bestehende Thatsache passiren ließ, die
gesammte poetische Literatur höheren Stiles, und ebendeshalb sollte es auch
wirtlich dieses seines hohen Berufes würdiger ausgestattet werden, als es durch¬
gehende der Fall ist. Einige Anfänge zum Bessern erkannte er in den neuen
würtembergischen und bayrischen Gesangbüchern, doch war er mit dem specifisch-
dogmatischen Gesichtspunkt wenigstens des letzteren keineswegs einverstanden.

Rückert war stets ein guter Protestant im echtesten Sinne des Wortes.
Niemals hat er irgendeinen Zug nach der Romantik der katholischen Kirche in
sich empfunden, wie so mancher seiner älteren und gleichzeitigen Genossen in
der Kunst und im Leben. Alberne Faseleien, die auch hierin die wahre
Gestalt des Mannes zu entstellen suchten, sind längst vergessen, wie sie es ver¬
diene». Sie waren überhaupt nicht bösartig gemeint, sondern grade das
Gegentheil davon. Sie gehörten einer Periode an, wo es manchen als Zeichen
eines besonders feinen Geschmackes und einer Extrasublimität des Geistes galt,
wenn sie katholisch wurden oder sich wenigstens so geberdeten, als seien sie es
geworden. Jeder unfreundliche, oder gar herbe Gegensatz gegen die ältere Kirche
war ihm aber völlig fremd. Auch hier wirkte die Gewöhnung der Jugend
vielleicht ebenso sehr wie die Erhabenheit seines geistigen Standpunktes. In
seiner Heimath war grade in jener Periode die vollkommenste Parität und
Toleranz der beiden Konfessionen zwar noch nicht ein Fundamentalsatz der staat¬
lichen Gesetzgebung, aber desto mehr schon in die Wirklichkeit der Zustände


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/90>, abgerufen am 09.06.2024.