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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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ganze Oper z. B. in allen ihren Gattungen war ihm wenigstens später so
gründlich verleidet, das, er niemals anders als von einer Verderbniß alles Ge¬
schmackes von ihr sprach. Trotzdem machten Einzelheiten namentlich mvzartscher
und gluckscher Opern, wenn sie ohne Prätension künstlerischer Virtuosität, etwa
in einem schlichten Privatkreise vorgetragen wurden, einen gewaltigen Eindruck
auf ihn. Erbezeichnete ihn aber selbst als eine" pathologischen, und nicht als
einen ästhetischen. Ein einfaches Lied mit einfacher Begleitung wirkte aufs
tiefste aus ihn. Mit besonderer Vorliebe oder richtiger mit wahrer Andacht
blieb er immerzu den reichardtschen Compositionen goethescher Lieder zugethan,
in die er sich ganz hineingelebt hatte. Auch das gewöhnliche Volkslied konnte
ihn gründlich erquicken, nur verlangte er, daß nicht blos die Melodien, sondern
"und die Texte einigen poetischen Werth besaßen. Ueberhaupt wollte er eine
Musik, die das Wort ganz zurücktreten lieh, mißhandelte oder verschlang, nicht
gelten lassen. Seine musikalischen Freunde kannten diese Eigenthümlichkeit und
hielten sie ihm zu Gute, weil er gar keinen andern Anspruch erhob. als daß sie-in
seiner subjectiven Empfindung begründet sei. Die einfache geistliche Musik liebte
er sehr, während er für die sublime Kunst der älteren Meister z. B. eines
Sebastian Bach weniger empfänglich war. Ein schlichter Choral konnte ihn
"uff tiefste rühren, und selbst der keineswegs immer sehr kunstgerechte Gesang
seiner Dorfkirche erbaute ihn doch fast immer, wenn er nicht gar zu dürftig
^entire wurde. Während der letzten Periode seines Lebens, in Neuscs, ge¬
hörte für ihn der Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes zur Regel, von der
^ nur aus Rücksichten der Gesundheit Umgang nahm, selten aus andern Ver¬
anlassungen. Es war außer der alten guten Sitte, die er wie Andere aus seiner
"nfach ländlichen Jugendzeit durch sein ganzes Leben mit sich nahm, hauptsäch¬
lich der Gesang und die Vorlesung des Evangeliums, die ihn dahin zogen.
Denn von unserer gesammten protestantischen Kanzclbercdsamkeit war er keines¬
wegs befriedigt, ohne daß er etwa an den einzelnen Prediger irgendwelche
hohen Ansprüche auf Geist und Form seines Vortrags gestellt hätte. Das
schlichteste war ihm auch hier das Liebste, aber das ganze Institut der Predigt
schien ihm, so wie es sich zum Mittelpunkte der Erbauung gemacht hatte und
so wie es demgemäß herkömmlich in unserer Kirche gehandhabt wird, wenig
Zweckentsprechend. Es versteht sich, daß er, dem jedes Gepränge und jeder
hohle Formentram gründlich widerwärtig war, ihn auch nicht in der Kirche und
hier am wenigsten getragen wissen wollte. So viel der Gottesdienst selbst auf
die Belebung des religiösen oder kirchlichen Sinnes wirken kann, erwartete er
von einer zwar schonenden, aber doch durchgreifenden Reform seiner gegenwärtigen
Einrichtung heilsame Früchte. Eine schlichtere, mehr der Houille als der
dialektisch-schematisirten und rhetorisch ausgeführten Predigt sich nähernde Weise
der Behandlung des Bibelwvrtes schien ihm nothwendig dazu zu gehören, zugleich


ganze Oper z. B. in allen ihren Gattungen war ihm wenigstens später so
gründlich verleidet, das, er niemals anders als von einer Verderbniß alles Ge¬
schmackes von ihr sprach. Trotzdem machten Einzelheiten namentlich mvzartscher
und gluckscher Opern, wenn sie ohne Prätension künstlerischer Virtuosität, etwa
in einem schlichten Privatkreise vorgetragen wurden, einen gewaltigen Eindruck
auf ihn. Erbezeichnete ihn aber selbst als eine» pathologischen, und nicht als
einen ästhetischen. Ein einfaches Lied mit einfacher Begleitung wirkte aufs
tiefste aus ihn. Mit besonderer Vorliebe oder richtiger mit wahrer Andacht
blieb er immerzu den reichardtschen Compositionen goethescher Lieder zugethan,
in die er sich ganz hineingelebt hatte. Auch das gewöhnliche Volkslied konnte
ihn gründlich erquicken, nur verlangte er, daß nicht blos die Melodien, sondern
«und die Texte einigen poetischen Werth besaßen. Ueberhaupt wollte er eine
Musik, die das Wort ganz zurücktreten lieh, mißhandelte oder verschlang, nicht
gelten lassen. Seine musikalischen Freunde kannten diese Eigenthümlichkeit und
hielten sie ihm zu Gute, weil er gar keinen andern Anspruch erhob. als daß sie-in
seiner subjectiven Empfindung begründet sei. Die einfache geistliche Musik liebte
er sehr, während er für die sublime Kunst der älteren Meister z. B. eines
Sebastian Bach weniger empfänglich war. Ein schlichter Choral konnte ihn
"uff tiefste rühren, und selbst der keineswegs immer sehr kunstgerechte Gesang
seiner Dorfkirche erbaute ihn doch fast immer, wenn er nicht gar zu dürftig
^entire wurde. Während der letzten Periode seines Lebens, in Neuscs, ge¬
hörte für ihn der Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes zur Regel, von der
^ nur aus Rücksichten der Gesundheit Umgang nahm, selten aus andern Ver¬
anlassungen. Es war außer der alten guten Sitte, die er wie Andere aus seiner
"nfach ländlichen Jugendzeit durch sein ganzes Leben mit sich nahm, hauptsäch¬
lich der Gesang und die Vorlesung des Evangeliums, die ihn dahin zogen.
Denn von unserer gesammten protestantischen Kanzclbercdsamkeit war er keines¬
wegs befriedigt, ohne daß er etwa an den einzelnen Prediger irgendwelche
hohen Ansprüche auf Geist und Form seines Vortrags gestellt hätte. Das
schlichteste war ihm auch hier das Liebste, aber das ganze Institut der Predigt
schien ihm, so wie es sich zum Mittelpunkte der Erbauung gemacht hatte und
so wie es demgemäß herkömmlich in unserer Kirche gehandhabt wird, wenig
Zweckentsprechend. Es versteht sich, daß er, dem jedes Gepränge und jeder
hohle Formentram gründlich widerwärtig war, ihn auch nicht in der Kirche und
hier am wenigsten getragen wissen wollte. So viel der Gottesdienst selbst auf
die Belebung des religiösen oder kirchlichen Sinnes wirken kann, erwartete er
von einer zwar schonenden, aber doch durchgreifenden Reform seiner gegenwärtigen
Einrichtung heilsame Früchte. Eine schlichtere, mehr der Houille als der
dialektisch-schematisirten und rhetorisch ausgeführten Predigt sich nähernde Weise
der Behandlung des Bibelwvrtes schien ihm nothwendig dazu zu gehören, zugleich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/89>, abgerufen am 31.05.2024.