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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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Apostelgeschichte ab. Renan ist -- wenn auch auf Umwegen -- nicht unbekannt
mit den bezüglichen Arbeiten der deutschen Kritik, er führt sie diesmal sogar
mit Namen an; er nennt de Wette, Schneckenburger, Baur, Schwegler, Zeller,
und er fügt hinzu, daß durch die Schriften dieser Gelehrten die aus die Apostel¬
geschichte sich beziehenden Fragen so zu sagen zu einem völligen Abschluß ge¬
kommen seien. Ob er das zellersche Buch, das allerdings nicht blos so zu sagen,
sondern wirklich diesen Theil der neutestamentlichen Kritik zum Abschluß gebracht
hat/) selbst einmal in Händen gehabt und darin geblättert hat? Man muß
es bezweifeln. Seine eigene Kritik wenigstens läßt den "Abschluß" dieser Fragen
noch nicht von Ferne ahnen, sie befindet sich noch ganz im Zustand der Kind¬
heit, im Zustand jenes tastenden Dilettantismus, der grade durch die Arbeiten
seit Schneckenburger und Baur überwunden ist. Wie harmlos sind diese Ein¬
wendungen und die Art sie wieder zu beseitigen? Wie gutmüthig das Ver¬
fahren, die Ansprüche der katholischen Tradition und die Ansprüche der Kritik
auf ein mittleres Niveau herabzudrücken, wo sie zu billigem Vergleich die Hand
sich reichen! Wie einfach der Nachweis, daß ein unmittelbarer Schüler deS
Paulus der Verfasser nicht nur der sogenannten "Wir"-Quelle, sondern des
ganzen Werks ist! Es entgeht Renan nicht, daß der Paulus der Apostelgeschichte
nach Temperament und Grundsätzen ein ganz andrer ist als der der Briefe,
daß der Versasser der ersteren auffallende Verschweigungen, Nachlässigkeiten,
ja gradezu Fälschungen der Geschichte sich zu Schulden kommen läßt. Aber
wie wird die Kritik bis zur Sprachlvsigkeit entwaffnet, wenn Renan vergnüglich
fortfährt: "Soll man sich bei diesen Einwürfen aufhalten? Ich denke es nicht
und fahre fort zu glauben, daß der letzte Verfasser der Apostelgeschichte wohl
der Schüler des Paulus ist, welcher in den letzten Capiteln "Wir" sagt." Was
hat die Kritik noch auf so niederschmetternde Gründe zu erwidern? Womit
kann sie noch länger widersprechen, daß die Schrift von dem Begleiter Lucas
und zwar um das Jahr 80 verfaßt ist, zumal da "ihr Geist dem Zeitalter der
ersten Flavier entspricht!"

Auch dies entgeht Renan nicht, daß der Erzähler der Apostelgeschichte eine
sehr bestimmte Tendenz verfolgt. Nicht nur steht demselben über der historischen
Treue das Interesse der Erbauung, nicht nur enthalten die ersten Capitel so
viel des Wunderhaften, daß ihr legendarischer Charakter in die Augen springt;
sondern, was wichtiger ist: die Parteigegensätze der Judenchristen und der Heiden¬
christen sind abgeschwächt, die Wundererzählungen tragen das Gepräge der Ab-
sichtlichkeit, Paulus und Petrus sind derart in Parallele gesetzt, daß ihre Cha¬
raktere sich entsprechen oder vielmehr gradezu vertauscht erscheinen, kurz es ist
eine dogmatische Geschichte, darauf berechnet, die damalige Orthodoxie zu unter-



') C> Zeller, die Apostelgeschichte nach Inhalt und Ursprung u. s. w. Stuttgart, 18S4.
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Apostelgeschichte ab. Renan ist — wenn auch auf Umwegen — nicht unbekannt
mit den bezüglichen Arbeiten der deutschen Kritik, er führt sie diesmal sogar
mit Namen an; er nennt de Wette, Schneckenburger, Baur, Schwegler, Zeller,
und er fügt hinzu, daß durch die Schriften dieser Gelehrten die aus die Apostel¬
geschichte sich beziehenden Fragen so zu sagen zu einem völligen Abschluß ge¬
kommen seien. Ob er das zellersche Buch, das allerdings nicht blos so zu sagen,
sondern wirklich diesen Theil der neutestamentlichen Kritik zum Abschluß gebracht
hat/) selbst einmal in Händen gehabt und darin geblättert hat? Man muß
es bezweifeln. Seine eigene Kritik wenigstens läßt den „Abschluß" dieser Fragen
noch nicht von Ferne ahnen, sie befindet sich noch ganz im Zustand der Kind¬
heit, im Zustand jenes tastenden Dilettantismus, der grade durch die Arbeiten
seit Schneckenburger und Baur überwunden ist. Wie harmlos sind diese Ein¬
wendungen und die Art sie wieder zu beseitigen? Wie gutmüthig das Ver¬
fahren, die Ansprüche der katholischen Tradition und die Ansprüche der Kritik
auf ein mittleres Niveau herabzudrücken, wo sie zu billigem Vergleich die Hand
sich reichen! Wie einfach der Nachweis, daß ein unmittelbarer Schüler deS
Paulus der Verfasser nicht nur der sogenannten „Wir"-Quelle, sondern des
ganzen Werks ist! Es entgeht Renan nicht, daß der Paulus der Apostelgeschichte
nach Temperament und Grundsätzen ein ganz andrer ist als der der Briefe,
daß der Versasser der ersteren auffallende Verschweigungen, Nachlässigkeiten,
ja gradezu Fälschungen der Geschichte sich zu Schulden kommen läßt. Aber
wie wird die Kritik bis zur Sprachlvsigkeit entwaffnet, wenn Renan vergnüglich
fortfährt: „Soll man sich bei diesen Einwürfen aufhalten? Ich denke es nicht
und fahre fort zu glauben, daß der letzte Verfasser der Apostelgeschichte wohl
der Schüler des Paulus ist, welcher in den letzten Capiteln „Wir" sagt." Was
hat die Kritik noch auf so niederschmetternde Gründe zu erwidern? Womit
kann sie noch länger widersprechen, daß die Schrift von dem Begleiter Lucas
und zwar um das Jahr 80 verfaßt ist, zumal da „ihr Geist dem Zeitalter der
ersten Flavier entspricht!"

Auch dies entgeht Renan nicht, daß der Erzähler der Apostelgeschichte eine
sehr bestimmte Tendenz verfolgt. Nicht nur steht demselben über der historischen
Treue das Interesse der Erbauung, nicht nur enthalten die ersten Capitel so
viel des Wunderhaften, daß ihr legendarischer Charakter in die Augen springt;
sondern, was wichtiger ist: die Parteigegensätze der Judenchristen und der Heiden¬
christen sind abgeschwächt, die Wundererzählungen tragen das Gepräge der Ab-
sichtlichkeit, Paulus und Petrus sind derart in Parallele gesetzt, daß ihre Cha¬
raktere sich entsprechen oder vielmehr gradezu vertauscht erscheinen, kurz es ist
eine dogmatische Geschichte, darauf berechnet, die damalige Orthodoxie zu unter-



') C> Zeller, die Apostelgeschichte nach Inhalt und Ursprung u. s. w. Stuttgart, 18S4.
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[0105] Apostelgeschichte ab. Renan ist — wenn auch auf Umwegen — nicht unbekannt mit den bezüglichen Arbeiten der deutschen Kritik, er führt sie diesmal sogar mit Namen an; er nennt de Wette, Schneckenburger, Baur, Schwegler, Zeller, und er fügt hinzu, daß durch die Schriften dieser Gelehrten die aus die Apostel¬ geschichte sich beziehenden Fragen so zu sagen zu einem völligen Abschluß ge¬ kommen seien. Ob er das zellersche Buch, das allerdings nicht blos so zu sagen, sondern wirklich diesen Theil der neutestamentlichen Kritik zum Abschluß gebracht hat/) selbst einmal in Händen gehabt und darin geblättert hat? Man muß es bezweifeln. Seine eigene Kritik wenigstens läßt den „Abschluß" dieser Fragen noch nicht von Ferne ahnen, sie befindet sich noch ganz im Zustand der Kind¬ heit, im Zustand jenes tastenden Dilettantismus, der grade durch die Arbeiten seit Schneckenburger und Baur überwunden ist. Wie harmlos sind diese Ein¬ wendungen und die Art sie wieder zu beseitigen? Wie gutmüthig das Ver¬ fahren, die Ansprüche der katholischen Tradition und die Ansprüche der Kritik auf ein mittleres Niveau herabzudrücken, wo sie zu billigem Vergleich die Hand sich reichen! Wie einfach der Nachweis, daß ein unmittelbarer Schüler deS Paulus der Verfasser nicht nur der sogenannten „Wir"-Quelle, sondern des ganzen Werks ist! Es entgeht Renan nicht, daß der Paulus der Apostelgeschichte nach Temperament und Grundsätzen ein ganz andrer ist als der der Briefe, daß der Versasser der ersteren auffallende Verschweigungen, Nachlässigkeiten, ja gradezu Fälschungen der Geschichte sich zu Schulden kommen läßt. Aber wie wird die Kritik bis zur Sprachlvsigkeit entwaffnet, wenn Renan vergnüglich fortfährt: „Soll man sich bei diesen Einwürfen aufhalten? Ich denke es nicht und fahre fort zu glauben, daß der letzte Verfasser der Apostelgeschichte wohl der Schüler des Paulus ist, welcher in den letzten Capiteln „Wir" sagt." Was hat die Kritik noch auf so niederschmetternde Gründe zu erwidern? Womit kann sie noch länger widersprechen, daß die Schrift von dem Begleiter Lucas und zwar um das Jahr 80 verfaßt ist, zumal da „ihr Geist dem Zeitalter der ersten Flavier entspricht!" Auch dies entgeht Renan nicht, daß der Erzähler der Apostelgeschichte eine sehr bestimmte Tendenz verfolgt. Nicht nur steht demselben über der historischen Treue das Interesse der Erbauung, nicht nur enthalten die ersten Capitel so viel des Wunderhaften, daß ihr legendarischer Charakter in die Augen springt; sondern, was wichtiger ist: die Parteigegensätze der Judenchristen und der Heiden¬ christen sind abgeschwächt, die Wundererzählungen tragen das Gepräge der Ab- sichtlichkeit, Paulus und Petrus sind derart in Parallele gesetzt, daß ihre Cha¬ raktere sich entsprechen oder vielmehr gradezu vertauscht erscheinen, kurz es ist eine dogmatische Geschichte, darauf berechnet, die damalige Orthodoxie zu unter- ') C> Zeller, die Apostelgeschichte nach Inhalt und Ursprung u. s. w. Stuttgart, 18S4. 12 *

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/105>, abgerufen am 16.06.2024.