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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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In der ersten Scene deS Clavigo spricht der Held mit seinem Freunde
Carlos über die Weiber. Clavigo meint: "Man vertändelt gar zu viel Zeit
mit ihnen." Carlos antwortet nach der Vulgata: "Narre, das ist deine Schuld.
Ich kann nie ohne Weiber leben und mich hindern sie an gar nichts. Auch
sag' ich ihnen nicht so viele schöne Sachen, tröste mich nicht Monate lang
an Sentiments und dergleichen; wie ich denn mit honetten Mädchen am
ungernsten zu thun habe."

Bernays will aus der ersten Einzelausgabe die Lesart "röste mich" statt
"tröste mich" herstellen. Allen Respect vor der ersten Ausgabe -- aber dies
scheint mir eine entschiedene Verschlechterung des gangbaren Textes, Bernays
meint, das "röste mich" bedürfe weder der Erklärung noch der Vertheidigung.
Der Schauspieler werde es schon vorzutragen wissen. Das "Trösten" sei nicht
klar, passe nicht in den Zusammenhang, bleibe in jedem Falle kraftlos, unbe¬
stimmt, schielend. Ich meine dagegen das Trösten sei klar und passend, das
Rösten im Zusammenhange unpassend, und auch der begabteste Schauspieler
werde dies nicht durch sein Spiel ändern können.

Carlos ergeht sich gegen die sentimentale, platonische Liebe. Er findet
es thöricht, sich daran zu rösten, sagt Bernays. Allein "geröstet werden"
im natürlichen Sinn ist gewiß etwas sehr Unangenehmes, also kann es auch
bildlich nur von etwas sehr Unangenehmen gebraucht werden. Läßt sich
aber der Zustand eines sentimental Liebenden mit dem des heiligen Laurentius
vergleichen? So schmerzlich kann er doch nicht sein, sonst würden nicht so Viele
in, jener Art lieben. Und nun gar sich rösten an Sentiments, wäre die Hand¬
lung eines Asceten, ^mes Büßers! Haben denn überhaupt jene Gefühle einen
so hohen Hitzegrad, eine so jähe Gluth, wie zum Rösten eiforderlich ist? Wer
würde auch ein "Monate langes" Rösten aushalten? Müssen wir nicht im
Gegentheil annehmen, daß Carlos die Sentiments verschmäht, weil sie ihm zu
lau sind, nicht die ihm behagliche Wärme erzeugen? Dagegen erscheint es mir
ganz verständlich, daß man sich "an Sentiments tröste", wie man sich eben
an Einem tröstet, wenn man ein Andres entbehrt, und ganz natürlich im
Munde von Carlos, der die Sentiments überhaupt nur als M aller für ein
Entbehrtes begreift, daß er in ihnen einen schlechten Trost findet, weil ihm
eben das Entbehrte unentbehrlich ist. Und so bin ich der Meinung, daß hier
ein Fall vorliegt, wo in der Originalausgabe die falsche, in den späteren Drucken
die richtige Lesart erscheint.

Sodann giebt es aber noch eine andre Möglichkeit, daß nämlich die spä¬
teren Gesammtausgaben eine Lesart ausweisen, die sich mit mindestens ebenso
guten Gründen vertheidigen läßt als die der ersten Einzelausgabe, so daß
dann das Urtheil der inneren Kritik in der Schwebe bleibt. Ich führe
wieder aus Clavigo einen solchen Fall an, in dem ich mich ebenfalls der


In der ersten Scene deS Clavigo spricht der Held mit seinem Freunde
Carlos über die Weiber. Clavigo meint: „Man vertändelt gar zu viel Zeit
mit ihnen." Carlos antwortet nach der Vulgata: „Narre, das ist deine Schuld.
Ich kann nie ohne Weiber leben und mich hindern sie an gar nichts. Auch
sag' ich ihnen nicht so viele schöne Sachen, tröste mich nicht Monate lang
an Sentiments und dergleichen; wie ich denn mit honetten Mädchen am
ungernsten zu thun habe."

Bernays will aus der ersten Einzelausgabe die Lesart „röste mich" statt
„tröste mich" herstellen. Allen Respect vor der ersten Ausgabe — aber dies
scheint mir eine entschiedene Verschlechterung des gangbaren Textes, Bernays
meint, das „röste mich" bedürfe weder der Erklärung noch der Vertheidigung.
Der Schauspieler werde es schon vorzutragen wissen. Das „Trösten" sei nicht
klar, passe nicht in den Zusammenhang, bleibe in jedem Falle kraftlos, unbe¬
stimmt, schielend. Ich meine dagegen das Trösten sei klar und passend, das
Rösten im Zusammenhange unpassend, und auch der begabteste Schauspieler
werde dies nicht durch sein Spiel ändern können.

Carlos ergeht sich gegen die sentimentale, platonische Liebe. Er findet
es thöricht, sich daran zu rösten, sagt Bernays. Allein „geröstet werden"
im natürlichen Sinn ist gewiß etwas sehr Unangenehmes, also kann es auch
bildlich nur von etwas sehr Unangenehmen gebraucht werden. Läßt sich
aber der Zustand eines sentimental Liebenden mit dem des heiligen Laurentius
vergleichen? So schmerzlich kann er doch nicht sein, sonst würden nicht so Viele
in, jener Art lieben. Und nun gar sich rösten an Sentiments, wäre die Hand¬
lung eines Asceten, ^mes Büßers! Haben denn überhaupt jene Gefühle einen
so hohen Hitzegrad, eine so jähe Gluth, wie zum Rösten eiforderlich ist? Wer
würde auch ein „Monate langes" Rösten aushalten? Müssen wir nicht im
Gegentheil annehmen, daß Carlos die Sentiments verschmäht, weil sie ihm zu
lau sind, nicht die ihm behagliche Wärme erzeugen? Dagegen erscheint es mir
ganz verständlich, daß man sich „an Sentiments tröste", wie man sich eben
an Einem tröstet, wenn man ein Andres entbehrt, und ganz natürlich im
Munde von Carlos, der die Sentiments überhaupt nur als M aller für ein
Entbehrtes begreift, daß er in ihnen einen schlechten Trost findet, weil ihm
eben das Entbehrte unentbehrlich ist. Und so bin ich der Meinung, daß hier
ein Fall vorliegt, wo in der Originalausgabe die falsche, in den späteren Drucken
die richtige Lesart erscheint.

Sodann giebt es aber noch eine andre Möglichkeit, daß nämlich die spä¬
teren Gesammtausgaben eine Lesart ausweisen, die sich mit mindestens ebenso
guten Gründen vertheidigen läßt als die der ersten Einzelausgabe, so daß
dann das Urtheil der inneren Kritik in der Schwebe bleibt. Ich führe
wieder aus Clavigo einen solchen Fall an, in dem ich mich ebenfalls der


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[0200] In der ersten Scene deS Clavigo spricht der Held mit seinem Freunde Carlos über die Weiber. Clavigo meint: „Man vertändelt gar zu viel Zeit mit ihnen." Carlos antwortet nach der Vulgata: „Narre, das ist deine Schuld. Ich kann nie ohne Weiber leben und mich hindern sie an gar nichts. Auch sag' ich ihnen nicht so viele schöne Sachen, tröste mich nicht Monate lang an Sentiments und dergleichen; wie ich denn mit honetten Mädchen am ungernsten zu thun habe." Bernays will aus der ersten Einzelausgabe die Lesart „röste mich" statt „tröste mich" herstellen. Allen Respect vor der ersten Ausgabe — aber dies scheint mir eine entschiedene Verschlechterung des gangbaren Textes, Bernays meint, das „röste mich" bedürfe weder der Erklärung noch der Vertheidigung. Der Schauspieler werde es schon vorzutragen wissen. Das „Trösten" sei nicht klar, passe nicht in den Zusammenhang, bleibe in jedem Falle kraftlos, unbe¬ stimmt, schielend. Ich meine dagegen das Trösten sei klar und passend, das Rösten im Zusammenhange unpassend, und auch der begabteste Schauspieler werde dies nicht durch sein Spiel ändern können. Carlos ergeht sich gegen die sentimentale, platonische Liebe. Er findet es thöricht, sich daran zu rösten, sagt Bernays. Allein „geröstet werden" im natürlichen Sinn ist gewiß etwas sehr Unangenehmes, also kann es auch bildlich nur von etwas sehr Unangenehmen gebraucht werden. Läßt sich aber der Zustand eines sentimental Liebenden mit dem des heiligen Laurentius vergleichen? So schmerzlich kann er doch nicht sein, sonst würden nicht so Viele in, jener Art lieben. Und nun gar sich rösten an Sentiments, wäre die Hand¬ lung eines Asceten, ^mes Büßers! Haben denn überhaupt jene Gefühle einen so hohen Hitzegrad, eine so jähe Gluth, wie zum Rösten eiforderlich ist? Wer würde auch ein „Monate langes" Rösten aushalten? Müssen wir nicht im Gegentheil annehmen, daß Carlos die Sentiments verschmäht, weil sie ihm zu lau sind, nicht die ihm behagliche Wärme erzeugen? Dagegen erscheint es mir ganz verständlich, daß man sich „an Sentiments tröste", wie man sich eben an Einem tröstet, wenn man ein Andres entbehrt, und ganz natürlich im Munde von Carlos, der die Sentiments überhaupt nur als M aller für ein Entbehrtes begreift, daß er in ihnen einen schlechten Trost findet, weil ihm eben das Entbehrte unentbehrlich ist. Und so bin ich der Meinung, daß hier ein Fall vorliegt, wo in der Originalausgabe die falsche, in den späteren Drucken die richtige Lesart erscheint. Sodann giebt es aber noch eine andre Möglichkeit, daß nämlich die spä¬ teren Gesammtausgaben eine Lesart ausweisen, die sich mit mindestens ebenso guten Gründen vertheidigen läßt als die der ersten Einzelausgabe, so daß dann das Urtheil der inneren Kritik in der Schwebe bleibt. Ich führe wieder aus Clavigo einen solchen Fall an, in dem ich mich ebenfalls der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/200>, abgerufen am 16.06.2024.