Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Zuversicht BernayS in seiner Entscheidung für die erste Lesart nicht anschließen
kann.

Clavigo erwartet im zweiten Act die beiden Franzosen, die sich haben
melden lassen. Es sind Landsleute Mariens. Der Gedanke an seine Untreue
gegen diese steigt quälend in ihm aus. Aber er will ihn verscheuchen. "Weg!"
ruft er nach der Vulgata, -- "und wär' ich Marien mehr schuldig als mir selbst?
und ists eine Pflicht mich unglücklich zu machen, weil mich ein Mädchen liebt?"

Bernays will aus der ersten Ausgabe "war ich" statt "wär'ich" herstellen.
"War," sagt er, "ist das einzig Richtige; Clavigo schweift mit seinen Gedanken
in die Vergangenheit zurück."

Allein sein Verhältniß zu Marie ist -- darauf beruht das ganze Stück --
nicht völlig vergangen, abgeschlossen, die Wirkungen davon dauern fort. Es
liegt also in der Situation, daß Clavigos Gedanken zwischen Vergangenheit
und Gegenwart hin und her schweifen. Dies thun sie ja grade auch nach der
B'schen Lesart, denn danach würde Clavigo in der ersten Hälfte des Satzes aus
der Vergangenheit reden ("war"), in der zweiten aus der Gegenwart ("ists,
liebt"). Wäre Correctheit das entscheidende Kriterium, so müßten wir uns
deswegen gegen einen solchen Wechsel des Tempus in demselben Satz entschei¬
den, also für die Vulgata. Aber diese Art von Correctheit kann im Clavigo über¬
haupt und namentlich in jener Scene nicht der höchste Maßstab sein. Und so ist
zwischen beiden Lesarten aus innern Gründen überhaupt gar nicht zu entscheiden.
Um schließlich auf die goethesche Textkritik im Allgemeinen zurückzulcnten, so
betrachte ich es durch die bernaysschen Untersuchungen als festgestellt, daß die
ersten Einzelausgaben correcter sind als die von Goethe selbst besorgten Gesammt-
ausgaben. Aber damit ist in keinem einzelnen Fall von vornherein die Mög¬
lichkeit abgeschnitten, daß die Gesammtausgaben eine vom Dichter ausgehende
oder gebilligte oder wenigstens dem, was er wirklich schrieb resp, schreibe"
wollte, entsprechende Correctur der ersten Ausgaben enthalten. Und so wird
am Ende, wenn nicht goethesche Manuscripte zu erlangen sind, die innere
Kritik doch das Beste thun müssen. Erst wo sie unentschieden bleibt, können
S. die ersten Drucke den Ausschlag geben.




Zuversicht BernayS in seiner Entscheidung für die erste Lesart nicht anschließen
kann.

Clavigo erwartet im zweiten Act die beiden Franzosen, die sich haben
melden lassen. Es sind Landsleute Mariens. Der Gedanke an seine Untreue
gegen diese steigt quälend in ihm aus. Aber er will ihn verscheuchen. „Weg!"
ruft er nach der Vulgata, — „und wär' ich Marien mehr schuldig als mir selbst?
und ists eine Pflicht mich unglücklich zu machen, weil mich ein Mädchen liebt?"

Bernays will aus der ersten Ausgabe „war ich" statt „wär'ich" herstellen.
„War," sagt er, „ist das einzig Richtige; Clavigo schweift mit seinen Gedanken
in die Vergangenheit zurück."

Allein sein Verhältniß zu Marie ist — darauf beruht das ganze Stück —
nicht völlig vergangen, abgeschlossen, die Wirkungen davon dauern fort. Es
liegt also in der Situation, daß Clavigos Gedanken zwischen Vergangenheit
und Gegenwart hin und her schweifen. Dies thun sie ja grade auch nach der
B'schen Lesart, denn danach würde Clavigo in der ersten Hälfte des Satzes aus
der Vergangenheit reden („war"), in der zweiten aus der Gegenwart („ists,
liebt"). Wäre Correctheit das entscheidende Kriterium, so müßten wir uns
deswegen gegen einen solchen Wechsel des Tempus in demselben Satz entschei¬
den, also für die Vulgata. Aber diese Art von Correctheit kann im Clavigo über¬
haupt und namentlich in jener Scene nicht der höchste Maßstab sein. Und so ist
zwischen beiden Lesarten aus innern Gründen überhaupt gar nicht zu entscheiden.
Um schließlich auf die goethesche Textkritik im Allgemeinen zurückzulcnten, so
betrachte ich es durch die bernaysschen Untersuchungen als festgestellt, daß die
ersten Einzelausgaben correcter sind als die von Goethe selbst besorgten Gesammt-
ausgaben. Aber damit ist in keinem einzelnen Fall von vornherein die Mög¬
lichkeit abgeschnitten, daß die Gesammtausgaben eine vom Dichter ausgehende
oder gebilligte oder wenigstens dem, was er wirklich schrieb resp, schreibe»
wollte, entsprechende Correctur der ersten Ausgaben enthalten. Und so wird
am Ende, wenn nicht goethesche Manuscripte zu erlangen sind, die innere
Kritik doch das Beste thun müssen. Erst wo sie unentschieden bleibt, können
S. die ersten Drucke den Ausschlag geben.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0201" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/190895"/>
          <p xml:id="ID_630" prev="#ID_629"> Zuversicht BernayS in seiner Entscheidung für die erste Lesart nicht anschließen<lb/>
kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_631"> Clavigo erwartet im zweiten Act die beiden Franzosen, die sich haben<lb/>
melden lassen. Es sind Landsleute Mariens. Der Gedanke an seine Untreue<lb/>
gegen diese steigt quälend in ihm aus. Aber er will ihn verscheuchen. &#x201E;Weg!"<lb/>
ruft er nach der Vulgata, &#x2014; &#x201E;und wär' ich Marien mehr schuldig als mir selbst?<lb/>
und ists eine Pflicht mich unglücklich zu machen, weil mich ein Mädchen liebt?"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_632"> Bernays will aus der ersten Ausgabe &#x201E;war ich" statt &#x201E;wär'ich" herstellen.<lb/>
&#x201E;War," sagt er, &#x201E;ist das einzig Richtige; Clavigo schweift mit seinen Gedanken<lb/>
in die Vergangenheit zurück."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_633"> Allein sein Verhältniß zu Marie ist &#x2014; darauf beruht das ganze Stück &#x2014;<lb/>
nicht völlig vergangen, abgeschlossen, die Wirkungen davon dauern fort. Es<lb/>
liegt also in der Situation, daß Clavigos Gedanken zwischen Vergangenheit<lb/>
und Gegenwart hin und her schweifen. Dies thun sie ja grade auch nach der<lb/>
B'schen Lesart, denn danach würde Clavigo in der ersten Hälfte des Satzes aus<lb/>
der Vergangenheit reden (&#x201E;war"), in der zweiten aus der Gegenwart (&#x201E;ists,<lb/>
liebt"). Wäre Correctheit das entscheidende Kriterium, so müßten wir uns<lb/>
deswegen gegen einen solchen Wechsel des Tempus in demselben Satz entschei¬<lb/>
den, also für die Vulgata. Aber diese Art von Correctheit kann im Clavigo über¬<lb/>
haupt und namentlich in jener Scene nicht der höchste Maßstab sein. Und so ist<lb/>
zwischen beiden Lesarten aus innern Gründen überhaupt gar nicht zu entscheiden.<lb/>
Um schließlich auf die goethesche Textkritik im Allgemeinen zurückzulcnten, so<lb/>
betrachte ich es durch die bernaysschen Untersuchungen als festgestellt, daß die<lb/>
ersten Einzelausgaben correcter sind als die von Goethe selbst besorgten Gesammt-<lb/>
ausgaben. Aber damit ist in keinem einzelnen Fall von vornherein die Mög¬<lb/>
lichkeit abgeschnitten, daß die Gesammtausgaben eine vom Dichter ausgehende<lb/>
oder gebilligte oder wenigstens dem, was er wirklich schrieb resp, schreibe»<lb/>
wollte, entsprechende Correctur der ersten Ausgaben enthalten. Und so wird<lb/>
am Ende, wenn nicht goethesche Manuscripte zu erlangen sind, die innere<lb/>
Kritik doch das Beste thun müssen. Erst wo sie unentschieden bleibt, können<lb/><note type="byline"> S.</note> die ersten Drucke den Ausschlag geben. </p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0201] Zuversicht BernayS in seiner Entscheidung für die erste Lesart nicht anschließen kann. Clavigo erwartet im zweiten Act die beiden Franzosen, die sich haben melden lassen. Es sind Landsleute Mariens. Der Gedanke an seine Untreue gegen diese steigt quälend in ihm aus. Aber er will ihn verscheuchen. „Weg!" ruft er nach der Vulgata, — „und wär' ich Marien mehr schuldig als mir selbst? und ists eine Pflicht mich unglücklich zu machen, weil mich ein Mädchen liebt?" Bernays will aus der ersten Ausgabe „war ich" statt „wär'ich" herstellen. „War," sagt er, „ist das einzig Richtige; Clavigo schweift mit seinen Gedanken in die Vergangenheit zurück." Allein sein Verhältniß zu Marie ist — darauf beruht das ganze Stück — nicht völlig vergangen, abgeschlossen, die Wirkungen davon dauern fort. Es liegt also in der Situation, daß Clavigos Gedanken zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her schweifen. Dies thun sie ja grade auch nach der B'schen Lesart, denn danach würde Clavigo in der ersten Hälfte des Satzes aus der Vergangenheit reden („war"), in der zweiten aus der Gegenwart („ists, liebt"). Wäre Correctheit das entscheidende Kriterium, so müßten wir uns deswegen gegen einen solchen Wechsel des Tempus in demselben Satz entschei¬ den, also für die Vulgata. Aber diese Art von Correctheit kann im Clavigo über¬ haupt und namentlich in jener Scene nicht der höchste Maßstab sein. Und so ist zwischen beiden Lesarten aus innern Gründen überhaupt gar nicht zu entscheiden. Um schließlich auf die goethesche Textkritik im Allgemeinen zurückzulcnten, so betrachte ich es durch die bernaysschen Untersuchungen als festgestellt, daß die ersten Einzelausgaben correcter sind als die von Goethe selbst besorgten Gesammt- ausgaben. Aber damit ist in keinem einzelnen Fall von vornherein die Mög¬ lichkeit abgeschnitten, daß die Gesammtausgaben eine vom Dichter ausgehende oder gebilligte oder wenigstens dem, was er wirklich schrieb resp, schreibe» wollte, entsprechende Correctur der ersten Ausgaben enthalten. Und so wird am Ende, wenn nicht goethesche Manuscripte zu erlangen sind, die innere Kritik doch das Beste thun müssen. Erst wo sie unentschieden bleibt, können S. die ersten Drucke den Ausschlag geben.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/201
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/201>, abgerufen am 24.05.2024.