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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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wollen und der Bedeutung des gebildeten, konservativen Elements Rechnung
zu tragen wissen, daß der Monarch selbst nichts weniger als ein Feind des Adels
ist. das alles kommt nicht in Betracht, so lange an dem gegenwärtig in Polen
befolgten System festgehalten und diesem gemäß der Bauer auf Unkosten des
Adels und der Geistlichkeit in die Herrschaft eingesetzt und rücksichtslos begün¬
stigt wird. Die unabweisbare innere Consequenz dieser Politik führt in einem
absolutistischen Staat mit Nothwendigkeit auf die Anwendung gleicher oder doch
ähnlicher Doctrinen auf allen Gebieten, zumal wenn eine große, mächtige und
rührige Partei keine Gelegenheit unbenutzt läßt, um in diesem Sinne aus jeder
Regierungshandlung Capital zu schlagen.

Bei der Unkenntniß russischer Zustände und ihrer Voraussetzungen, durch
welche die deutsche Presse sich (in nicht eben erfreulicher Weise) vor der fran¬
zösischen und englischen auszeichnet, hat es nicht fehlen können, daß das At¬
tentat vom 4.(16.) April und dessen nächste Folgen zu den verschiedensten, sich
häufig widersprechenden Auslassungen Veranlassung gegeben haben; wo man
mit Schlagworten wie "liberal" und "conservativ". "demokratisch", "reactionä'r"
alles gesagt zu haben meint, geschieht es mit Nothwendigkeit, daß man rathlos
Wird, wo diese Ausdrücke nicht anwendbar sind, oder doch eine modificirte Be¬
deutung haben. Auch in Deutschland hat man seiner Zeit viel von der
"großen Reaction" in Petersburg gesprochen, die armen Demokraten bedauert,
die ihre Gesinnungstüchtigkeit mit Kerker und Verfolgung büßen müssen wür-
den. gegen die Aristokratie declamirt, welche dem "Forischritt" abhold sei. die
Leibeigenschaft wiederherstellen, ein finsteres Adelsregiment etabliren wolle u. s. w.
-- von dem Zusammenhang und den Beziehungen dieser Parteien zu der pol-
nischen Frage und denselben Polen, für die man sich unter Umständen wieder voll¬
ständig begeisterte, haben die Wenigsten etwas gewußt. Für den richtig orien-
tirten Beobachter stellt sich die Sache so, daß das karakosowsche Attentat für
einen Augenblick Miene machte, die seit 1863 in Fluß gekommene national-
demokratische Strömung, welche es auf eine Herrschaft der im eigentlichen Ru߬
land am meisten national gebliebenen, von der occidentalen Bildung nicht be¬
rührten Classen absieht und durch die Vernichtung der westeuropäisch gebildeten
aristokratischen Elemente der Grenzprovinzen ein einheitlich-nationales Rußland
herzustellen bestrebt ist. daß das Attentat vom 4 (16.) April diese Strömung in
Stocken zu bringen, ja zu hemmen Miene machte, die Versuche zur Aenderung
der eingeschlagenen Richtung aber um der Konsequenzen willen aufgegeben wer¬
den mußten, welche sie bei energischer Weiterführung für die polnische Frage
gehabt haben würden.

Dieses vorangeschickt, beantwortet sich die Frage nach den voraussichtlichen
Wirkungen des pariser Attentats (6. Juni) auf die russische Gesellschaft von selbst.
Da man den Vernichtungskampf gegen das Polenthum als Krieg der slawisch-


Grenjboten II. 1867. 61.

wollen und der Bedeutung des gebildeten, konservativen Elements Rechnung
zu tragen wissen, daß der Monarch selbst nichts weniger als ein Feind des Adels
ist. das alles kommt nicht in Betracht, so lange an dem gegenwärtig in Polen
befolgten System festgehalten und diesem gemäß der Bauer auf Unkosten des
Adels und der Geistlichkeit in die Herrschaft eingesetzt und rücksichtslos begün¬
stigt wird. Die unabweisbare innere Consequenz dieser Politik führt in einem
absolutistischen Staat mit Nothwendigkeit auf die Anwendung gleicher oder doch
ähnlicher Doctrinen auf allen Gebieten, zumal wenn eine große, mächtige und
rührige Partei keine Gelegenheit unbenutzt läßt, um in diesem Sinne aus jeder
Regierungshandlung Capital zu schlagen.

Bei der Unkenntniß russischer Zustände und ihrer Voraussetzungen, durch
welche die deutsche Presse sich (in nicht eben erfreulicher Weise) vor der fran¬
zösischen und englischen auszeichnet, hat es nicht fehlen können, daß das At¬
tentat vom 4.(16.) April und dessen nächste Folgen zu den verschiedensten, sich
häufig widersprechenden Auslassungen Veranlassung gegeben haben; wo man
mit Schlagworten wie „liberal" und „conservativ". „demokratisch", „reactionä'r"
alles gesagt zu haben meint, geschieht es mit Nothwendigkeit, daß man rathlos
Wird, wo diese Ausdrücke nicht anwendbar sind, oder doch eine modificirte Be¬
deutung haben. Auch in Deutschland hat man seiner Zeit viel von der
»großen Reaction" in Petersburg gesprochen, die armen Demokraten bedauert,
die ihre Gesinnungstüchtigkeit mit Kerker und Verfolgung büßen müssen wür-
den. gegen die Aristokratie declamirt, welche dem „Forischritt" abhold sei. die
Leibeigenschaft wiederherstellen, ein finsteres Adelsregiment etabliren wolle u. s. w.
— von dem Zusammenhang und den Beziehungen dieser Parteien zu der pol-
nischen Frage und denselben Polen, für die man sich unter Umständen wieder voll¬
ständig begeisterte, haben die Wenigsten etwas gewußt. Für den richtig orien-
tirten Beobachter stellt sich die Sache so, daß das karakosowsche Attentat für
einen Augenblick Miene machte, die seit 1863 in Fluß gekommene national-
demokratische Strömung, welche es auf eine Herrschaft der im eigentlichen Ru߬
land am meisten national gebliebenen, von der occidentalen Bildung nicht be¬
rührten Classen absieht und durch die Vernichtung der westeuropäisch gebildeten
aristokratischen Elemente der Grenzprovinzen ein einheitlich-nationales Rußland
herzustellen bestrebt ist. daß das Attentat vom 4 (16.) April diese Strömung in
Stocken zu bringen, ja zu hemmen Miene machte, die Versuche zur Aenderung
der eingeschlagenen Richtung aber um der Konsequenzen willen aufgegeben wer¬
den mußten, welche sie bei energischer Weiterführung für die polnische Frage
gehabt haben würden.

Dieses vorangeschickt, beantwortet sich die Frage nach den voraussichtlichen
Wirkungen des pariser Attentats (6. Juni) auf die russische Gesellschaft von selbst.
Da man den Vernichtungskampf gegen das Polenthum als Krieg der slawisch-


Grenjboten II. 1867. 61.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/481>, abgerufen am 17.06.2024.