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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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traf. Tausend Wünsche, welche unter der Regierung des Kaisers Nikolaus im
Herzen der Nation geschlummert hatten, erwachten plötzlich und heisesten stür¬
misch Befriedigung: Aushebung der Körperstrafe, Reform der Justiz, Neu¬
gestaltung des an jeder freien Bewegung gehinderten Unterrichtswesens, Ab¬
schaffung der Censur, Einschränkung der Allgewalt der Bureaukratie durch ein
nationales Selfgovernment wurden in einem Athem verlangt, und kaum hatte
man sich davon überzeugt, daß die Regierung nicht abgeneigt sei, diesen Wün¬
schen Rechnung zu tragen und eine Radicalreform an Haupt und Gliedern zu
unternehmen, so tauchten noch weiter gehende Wünsche auf, und schon wenige
Monate nach Aufhebung der Leibeigenschaft War in den weitesten Kreisen von
Abschaffung des Adels, zwangsweiser und unentgeltlicher Expropriation der
Gutsbesitzer zu Gunsten der eben freigewordenen Bauern und Von Begründung
einer konstitutionellen Reichsverfassung auf demokratischer Grundlage die Rede.
Auf eine über Nacht aufgeschossene, jugendlich anspruchsvolle Presse gestützt,
durch den Zusammensturz des alten Systems von jeder Schranke befreit, feierte
der russische Liberalismus seine Honigmonate. Es war eine Zeit allgemeiner
Begeisterung und Erhebung, Alles hoffte auf eine bessere, freiere Zukunft, ein
edler humaner Geist schien aus Regierung und Regierten zu ruhen und das mit
auswuchernde socialistische Unkraut, das die Schule Alexander Herzens ausge¬
streut hatte, glaubte man mit Hilfe des gesunden Sinns, den namentlich die
ländliche Bevölkerung bewährte, wieder ausraufen zu können. Nicht nur das
russische Volk sollte seine Auferstehung feiern, auch die Finnländer und Polen
wurden der Segnungen eines humaneren Regiments theilhaft: den ersteren
wurde ihre alte, vierzig Jahre lang sistirte schwedische Verfassung wiedergegeben,
das Königreich Polen erhielt an dem Marquis Wielvpolski einen entschieden
nationalen Minister und wurde gleichzeitig mit einer ziemlich freisinnigen Pro-
vinzialverfassung bedacht -- und Alles das -unter dem Beifall der liberalen
russischen Presse. Noch war der Dämon des russischen Nationalfanatismus
nicht entfesselt, noch faßte auch das russische Volk die Freiheit als Bethätigung
und Geltcndmachuiig historisch gewordener Bedürfnisse auf. Unbeirrt durch die
täglichen Fortschritte, welche der Socialismus bereits damals machte, die Peters¬
burger Studentcnumuhen vom Herbst 1861 und die Maifeuersbrünste von
1862, wurde die Fahne der Freiheit hochgehalten, das Werk der inneren Neu¬
gestaltung von Volk und Regierung weiter fortgeführt.

In keinem Theile des russischen Reichs waren die Härten des alten Systems
so peinlich empfunden worden, wie in den Ostseeprovinzen: die Absperrung
von der westeuropäischen Culturwelt, die militärische Beschränkung des Unter-
richtswesens, die Unerbittlichkeit der Censur, der Stillstand auf den verschiedenen
Gebieten des geistigen Lebens, die Duldung der kirchlichen Propaganda des
griechischen Clerus hatten das Osiseeland an eine stumme Unterwerfung unter


traf. Tausend Wünsche, welche unter der Regierung des Kaisers Nikolaus im
Herzen der Nation geschlummert hatten, erwachten plötzlich und heisesten stür¬
misch Befriedigung: Aushebung der Körperstrafe, Reform der Justiz, Neu¬
gestaltung des an jeder freien Bewegung gehinderten Unterrichtswesens, Ab¬
schaffung der Censur, Einschränkung der Allgewalt der Bureaukratie durch ein
nationales Selfgovernment wurden in einem Athem verlangt, und kaum hatte
man sich davon überzeugt, daß die Regierung nicht abgeneigt sei, diesen Wün¬
schen Rechnung zu tragen und eine Radicalreform an Haupt und Gliedern zu
unternehmen, so tauchten noch weiter gehende Wünsche auf, und schon wenige
Monate nach Aufhebung der Leibeigenschaft War in den weitesten Kreisen von
Abschaffung des Adels, zwangsweiser und unentgeltlicher Expropriation der
Gutsbesitzer zu Gunsten der eben freigewordenen Bauern und Von Begründung
einer konstitutionellen Reichsverfassung auf demokratischer Grundlage die Rede.
Auf eine über Nacht aufgeschossene, jugendlich anspruchsvolle Presse gestützt,
durch den Zusammensturz des alten Systems von jeder Schranke befreit, feierte
der russische Liberalismus seine Honigmonate. Es war eine Zeit allgemeiner
Begeisterung und Erhebung, Alles hoffte auf eine bessere, freiere Zukunft, ein
edler humaner Geist schien aus Regierung und Regierten zu ruhen und das mit
auswuchernde socialistische Unkraut, das die Schule Alexander Herzens ausge¬
streut hatte, glaubte man mit Hilfe des gesunden Sinns, den namentlich die
ländliche Bevölkerung bewährte, wieder ausraufen zu können. Nicht nur das
russische Volk sollte seine Auferstehung feiern, auch die Finnländer und Polen
wurden der Segnungen eines humaneren Regiments theilhaft: den ersteren
wurde ihre alte, vierzig Jahre lang sistirte schwedische Verfassung wiedergegeben,
das Königreich Polen erhielt an dem Marquis Wielvpolski einen entschieden
nationalen Minister und wurde gleichzeitig mit einer ziemlich freisinnigen Pro-
vinzialverfassung bedacht — und Alles das -unter dem Beifall der liberalen
russischen Presse. Noch war der Dämon des russischen Nationalfanatismus
nicht entfesselt, noch faßte auch das russische Volk die Freiheit als Bethätigung
und Geltcndmachuiig historisch gewordener Bedürfnisse auf. Unbeirrt durch die
täglichen Fortschritte, welche der Socialismus bereits damals machte, die Peters¬
burger Studentcnumuhen vom Herbst 1861 und die Maifeuersbrünste von
1862, wurde die Fahne der Freiheit hochgehalten, das Werk der inneren Neu¬
gestaltung von Volk und Regierung weiter fortgeführt.

In keinem Theile des russischen Reichs waren die Härten des alten Systems
so peinlich empfunden worden, wie in den Ostseeprovinzen: die Absperrung
von der westeuropäischen Culturwelt, die militärische Beschränkung des Unter-
richtswesens, die Unerbittlichkeit der Censur, der Stillstand auf den verschiedenen
Gebieten des geistigen Lebens, die Duldung der kirchlichen Propaganda des
griechischen Clerus hatten das Osiseeland an eine stumme Unterwerfung unter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/370>, abgerufen am 05.05.2024.