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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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das Gesetz eherner Nothwendigkeit gewöhnt, jede Hoffnung auf eine Reform
im liberalen Sinne erstickt -- man war froh gewesen, hinter dem Wall
mittelalterlicher Institutionen eine Art passiven Widerstandes leisten zu können
und lebte ziemlich allgemein des Glaubens, den alten Satzungen sei es allein
zu danken, wenn ein Stück deutschen Lebens an der Ostsee übrig geblieben.
Das Frühlingswchen der liberalen neuen Aera, die mit der Beendigung des
Krimkrieges ihren Anfang genommen hatte, ging cur den baltischen Provinzen
beinahe spurlos vorüber. Eine eigene Presse besaß man noch nicht, die russi¬
schen Zeitungen wurden nicht gelesen und von der großen Umwälzung im Osten
erhielt man spärlichere Nachrichten als im westlichen Europa. Die Kunde
von einem Umschwung aller Verhältnisse, von liberalen Absichten der Regie¬
rungskreise, von der Möglichkeit einer inneren Neugestaltung im Sinn der
Zeitideen, sie klang zu fabelhaft, um Boden zu finden, geschweige denn eine
zündende Wirkung zu thun. Man hatte sich der Gedanken an einen Sy-
siemwechscl zu gründlich entschlagen, um sich an denselben so rasch, als zu
einer heilsamen Benutzung der Conjunctur nothwendig gewesen wäre, zu ge¬
wöhnen. -- Der geeignete Zeitpunkt zu heilsamer Neugestaltung der alterthüm¬
lichen Einrichtungen und der zahlreichen Mißbräuche des baltischen Provinzial-
lebens ging darum vollständig unbenutzt vorüber. Erst im I. 1862 begann das
Eis zu schmelzen und eine lebhaftere Bewegung der Geister fühlbar zu werden;
rasch hinter einander entstanden verschiedene neue Zeitschriften und Journale,
die für die Nothwendigkeit einer Reform eintraten; auf dem livländischen Land¬
tage von 1862 wurden verschiedene Anträge auf Umgestaltung der Verfassung,
Verbesserung der Justiz, Freigebung des bis dahin dem Adel vorbehaltenen
Grundbesitzes, engeren Zusammenschluß der drei Provinzen u. s. w. gestellt,
im Herbst desselben Jahres versuchte man endlich eine allgemeine Juristenver¬
sammlung zu Stande zu bringen und in dieser den Hebel zur Reform der
Rechtspflege zu gewinnen. Es dauerte aber noch lange, ehe die Reformbewegung
breiteren Boden und Einfluß auf die eigentlichen leitenden Kreise gewann.
Nicht gering war die Zahl derer, die von jeder Veränderung des alten privi-
lcgicnmäßigen Zustandes den Verlust der theuersten Landesrechte, die Durch¬
löcherung des Rechtsbodens fürchteten, der die einzigen Garantien für die selb¬
ständige, autonome Landesverfassung enthielt. Der Unverstand radicaler Schwär¬
mer, die sich über Kopf und Hals in den Strom des russischen. Liberalismus
werfen und mit den moskauer Demokraten gemeinsame Sache machen wollten,
that das seine, um die Gemüther zu verwirren und die Ziele, um welche es
sich handelte und handeln mußte, zu verrücken. Dazu kam, daß die Ultras
der russischen Demokratie zugleich mit dem mittelalterlichen Bau der baltischen
Verfassung deren Inhalt angriffen, in einem Athem Aufhebung der Adels¬
privilegien, demokratische Bauernlandtage, Vernichtung des deutschen Einflusses,


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das Gesetz eherner Nothwendigkeit gewöhnt, jede Hoffnung auf eine Reform
im liberalen Sinne erstickt — man war froh gewesen, hinter dem Wall
mittelalterlicher Institutionen eine Art passiven Widerstandes leisten zu können
und lebte ziemlich allgemein des Glaubens, den alten Satzungen sei es allein
zu danken, wenn ein Stück deutschen Lebens an der Ostsee übrig geblieben.
Das Frühlingswchen der liberalen neuen Aera, die mit der Beendigung des
Krimkrieges ihren Anfang genommen hatte, ging cur den baltischen Provinzen
beinahe spurlos vorüber. Eine eigene Presse besaß man noch nicht, die russi¬
schen Zeitungen wurden nicht gelesen und von der großen Umwälzung im Osten
erhielt man spärlichere Nachrichten als im westlichen Europa. Die Kunde
von einem Umschwung aller Verhältnisse, von liberalen Absichten der Regie¬
rungskreise, von der Möglichkeit einer inneren Neugestaltung im Sinn der
Zeitideen, sie klang zu fabelhaft, um Boden zu finden, geschweige denn eine
zündende Wirkung zu thun. Man hatte sich der Gedanken an einen Sy-
siemwechscl zu gründlich entschlagen, um sich an denselben so rasch, als zu
einer heilsamen Benutzung der Conjunctur nothwendig gewesen wäre, zu ge¬
wöhnen. — Der geeignete Zeitpunkt zu heilsamer Neugestaltung der alterthüm¬
lichen Einrichtungen und der zahlreichen Mißbräuche des baltischen Provinzial-
lebens ging darum vollständig unbenutzt vorüber. Erst im I. 1862 begann das
Eis zu schmelzen und eine lebhaftere Bewegung der Geister fühlbar zu werden;
rasch hinter einander entstanden verschiedene neue Zeitschriften und Journale,
die für die Nothwendigkeit einer Reform eintraten; auf dem livländischen Land¬
tage von 1862 wurden verschiedene Anträge auf Umgestaltung der Verfassung,
Verbesserung der Justiz, Freigebung des bis dahin dem Adel vorbehaltenen
Grundbesitzes, engeren Zusammenschluß der drei Provinzen u. s. w. gestellt,
im Herbst desselben Jahres versuchte man endlich eine allgemeine Juristenver¬
sammlung zu Stande zu bringen und in dieser den Hebel zur Reform der
Rechtspflege zu gewinnen. Es dauerte aber noch lange, ehe die Reformbewegung
breiteren Boden und Einfluß auf die eigentlichen leitenden Kreise gewann.
Nicht gering war die Zahl derer, die von jeder Veränderung des alten privi-
lcgicnmäßigen Zustandes den Verlust der theuersten Landesrechte, die Durch¬
löcherung des Rechtsbodens fürchteten, der die einzigen Garantien für die selb¬
ständige, autonome Landesverfassung enthielt. Der Unverstand radicaler Schwär¬
mer, die sich über Kopf und Hals in den Strom des russischen. Liberalismus
werfen und mit den moskauer Demokraten gemeinsame Sache machen wollten,
that das seine, um die Gemüther zu verwirren und die Ziele, um welche es
sich handelte und handeln mußte, zu verrücken. Dazu kam, daß die Ultras
der russischen Demokratie zugleich mit dem mittelalterlichen Bau der baltischen
Verfassung deren Inhalt angriffen, in einem Athem Aufhebung der Adels¬
privilegien, demokratische Bauernlandtage, Vernichtung des deutschen Einflusses,


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[0371] das Gesetz eherner Nothwendigkeit gewöhnt, jede Hoffnung auf eine Reform im liberalen Sinne erstickt — man war froh gewesen, hinter dem Wall mittelalterlicher Institutionen eine Art passiven Widerstandes leisten zu können und lebte ziemlich allgemein des Glaubens, den alten Satzungen sei es allein zu danken, wenn ein Stück deutschen Lebens an der Ostsee übrig geblieben. Das Frühlingswchen der liberalen neuen Aera, die mit der Beendigung des Krimkrieges ihren Anfang genommen hatte, ging cur den baltischen Provinzen beinahe spurlos vorüber. Eine eigene Presse besaß man noch nicht, die russi¬ schen Zeitungen wurden nicht gelesen und von der großen Umwälzung im Osten erhielt man spärlichere Nachrichten als im westlichen Europa. Die Kunde von einem Umschwung aller Verhältnisse, von liberalen Absichten der Regie¬ rungskreise, von der Möglichkeit einer inneren Neugestaltung im Sinn der Zeitideen, sie klang zu fabelhaft, um Boden zu finden, geschweige denn eine zündende Wirkung zu thun. Man hatte sich der Gedanken an einen Sy- siemwechscl zu gründlich entschlagen, um sich an denselben so rasch, als zu einer heilsamen Benutzung der Conjunctur nothwendig gewesen wäre, zu ge¬ wöhnen. — Der geeignete Zeitpunkt zu heilsamer Neugestaltung der alterthüm¬ lichen Einrichtungen und der zahlreichen Mißbräuche des baltischen Provinzial- lebens ging darum vollständig unbenutzt vorüber. Erst im I. 1862 begann das Eis zu schmelzen und eine lebhaftere Bewegung der Geister fühlbar zu werden; rasch hinter einander entstanden verschiedene neue Zeitschriften und Journale, die für die Nothwendigkeit einer Reform eintraten; auf dem livländischen Land¬ tage von 1862 wurden verschiedene Anträge auf Umgestaltung der Verfassung, Verbesserung der Justiz, Freigebung des bis dahin dem Adel vorbehaltenen Grundbesitzes, engeren Zusammenschluß der drei Provinzen u. s. w. gestellt, im Herbst desselben Jahres versuchte man endlich eine allgemeine Juristenver¬ sammlung zu Stande zu bringen und in dieser den Hebel zur Reform der Rechtspflege zu gewinnen. Es dauerte aber noch lange, ehe die Reformbewegung breiteren Boden und Einfluß auf die eigentlichen leitenden Kreise gewann. Nicht gering war die Zahl derer, die von jeder Veränderung des alten privi- lcgicnmäßigen Zustandes den Verlust der theuersten Landesrechte, die Durch¬ löcherung des Rechtsbodens fürchteten, der die einzigen Garantien für die selb¬ ständige, autonome Landesverfassung enthielt. Der Unverstand radicaler Schwär¬ mer, die sich über Kopf und Hals in den Strom des russischen. Liberalismus werfen und mit den moskauer Demokraten gemeinsame Sache machen wollten, that das seine, um die Gemüther zu verwirren und die Ziele, um welche es sich handelte und handeln mußte, zu verrücken. Dazu kam, daß die Ultras der russischen Demokratie zugleich mit dem mittelalterlichen Bau der baltischen Verfassung deren Inhalt angriffen, in einem Athem Aufhebung der Adels¬ privilegien, demokratische Bauernlandtage, Vernichtung des deutschen Einflusses, 47*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/371>, abgerufen am 18.05.2024.