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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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in Widerstreit mit sittlichen Pflichten, so werden nur zu oft die letztern unter¬
liegen. Denn hat auch die Geschichte noch so viele und glänzende Ausnahmen
von diesem Satze auszuweisen, sie sind und bleiben eben Ausnahmen. Als Regel
leitet das eigne Interesse die Einzelnen wie die Völker und Nationen. ,

Die Pflicht drängt den Küstenbewohner zur Rettung der Menschen, das
Interesse zur Rettung der Sacken; wo beides collidirt, wird das Nettungswerk
nur zu häusig leiden, und da muß der Staat eintreten und durch zeitgemäße
Umwandlung der Strandungs-Gesetzgebung verhindern, daß solche Collision
eintreten kann; die Gesetzgebung muß dem heutigen allgemeinen Rechtsgefühl
entsprechend Vorsorge treffen, daß ein Schiffbruch nicht mehr als ein Glück
und ein Segen von der Strandbcvvlkcrung begrüßt werden kann, sie muß den
starken Rest mittelalterlicher Barbarei, der in dem heutigen Strandrecht noch
immer steckt, mit der Wurzel vertilgen und dahin wirken, daß der leidige Be¬
griff des "Strandsegens" endlich zu existiren aufhört.

Es ist eine traurige aber unwiderleglich wahre Thatsache, daß auch noch
heute im Jahre 1867 der Sinn für Recht und Unrecht in Bezug auf Strand¬
gut in der Küstcnbevölkerung fast gänzlich fehlt, daß auch die sonst redlichsten
Leute in diesem Punkte völlig demoralistrt sind, daß namentlich auf manchen
Inseln eine ausgebildete Strandräuberei existirt, daß sonntäglich in einem nichts
weniger als christlichen Sinne um einen "gesegneten Strand" gebetet wird,
daß jeder Strandungsfall als eine wahre Goldgrube auf das schamloseste aus-
gebeutet wird, selbst von Personen, die nach Stand und Bildung auf der Höhe
sittlicher Anschauungen stehen sollten.

An Beispielen dieser Art fehlt es nicht.

Haben doch vor wenigen Jahren erst Prediger und Schullehrer einer Insel
wegen Theilnahme an solch' unbefugten Strandraubc ihres Dienstes entsetzt
werden müssen, haben doch bei der im Jahre 1866 vorgekommenen, vielfach
besprochenen Strandung des englischen Dampfers Excelsior auf dem Juister
Riff sich zwei Aerzte nicht entblödet, für die Behandlung der geretteten Mann¬
schaft zusammen über 2000 Thlr. zu fordern, um sich nachher mit weniger als
dem vierten Theil ihrer Forderung zu begnügen!

Nur wer an der Küste gelebt, wer selbst Schiffe hat stranden sehen,
wer die Abwicklung der Strandungsgcschäftc oftmals beobachtet, die maßlosen
Rechnungen vor Augen gehabt hat, die dabei von allen Seiten aufgestellt wer¬
den, nur wer sich selbst überzeugt hat, mit welcher Gier und Habsucht jeder an
dein Strandgut zu zehren bestrebt ist, nur der kann ermessen, welch' tiefe De¬
moralisation das Strandwesen auch in seiner heutigen Gestalt noch im Ge¬
folge hat, welch' sittlicher Krebsschaden dasselbe für die Küsten- und Jnsel-
bevölkerung ist, und wie entsetzlich schwer es hält, seit Jahrhunderten im Volk
Angewurzelte falsche und verwerfliche Begriffe auszurotten.


in Widerstreit mit sittlichen Pflichten, so werden nur zu oft die letztern unter¬
liegen. Denn hat auch die Geschichte noch so viele und glänzende Ausnahmen
von diesem Satze auszuweisen, sie sind und bleiben eben Ausnahmen. Als Regel
leitet das eigne Interesse die Einzelnen wie die Völker und Nationen. ,

Die Pflicht drängt den Küstenbewohner zur Rettung der Menschen, das
Interesse zur Rettung der Sacken; wo beides collidirt, wird das Nettungswerk
nur zu häusig leiden, und da muß der Staat eintreten und durch zeitgemäße
Umwandlung der Strandungs-Gesetzgebung verhindern, daß solche Collision
eintreten kann; die Gesetzgebung muß dem heutigen allgemeinen Rechtsgefühl
entsprechend Vorsorge treffen, daß ein Schiffbruch nicht mehr als ein Glück
und ein Segen von der Strandbcvvlkcrung begrüßt werden kann, sie muß den
starken Rest mittelalterlicher Barbarei, der in dem heutigen Strandrecht noch
immer steckt, mit der Wurzel vertilgen und dahin wirken, daß der leidige Be¬
griff des „Strandsegens" endlich zu existiren aufhört.

Es ist eine traurige aber unwiderleglich wahre Thatsache, daß auch noch
heute im Jahre 1867 der Sinn für Recht und Unrecht in Bezug auf Strand¬
gut in der Küstcnbevölkerung fast gänzlich fehlt, daß auch die sonst redlichsten
Leute in diesem Punkte völlig demoralistrt sind, daß namentlich auf manchen
Inseln eine ausgebildete Strandräuberei existirt, daß sonntäglich in einem nichts
weniger als christlichen Sinne um einen „gesegneten Strand" gebetet wird,
daß jeder Strandungsfall als eine wahre Goldgrube auf das schamloseste aus-
gebeutet wird, selbst von Personen, die nach Stand und Bildung auf der Höhe
sittlicher Anschauungen stehen sollten.

An Beispielen dieser Art fehlt es nicht.

Haben doch vor wenigen Jahren erst Prediger und Schullehrer einer Insel
wegen Theilnahme an solch' unbefugten Strandraubc ihres Dienstes entsetzt
werden müssen, haben doch bei der im Jahre 1866 vorgekommenen, vielfach
besprochenen Strandung des englischen Dampfers Excelsior auf dem Juister
Riff sich zwei Aerzte nicht entblödet, für die Behandlung der geretteten Mann¬
schaft zusammen über 2000 Thlr. zu fordern, um sich nachher mit weniger als
dem vierten Theil ihrer Forderung zu begnügen!

Nur wer an der Küste gelebt, wer selbst Schiffe hat stranden sehen,
wer die Abwicklung der Strandungsgcschäftc oftmals beobachtet, die maßlosen
Rechnungen vor Augen gehabt hat, die dabei von allen Seiten aufgestellt wer¬
den, nur wer sich selbst überzeugt hat, mit welcher Gier und Habsucht jeder an
dein Strandgut zu zehren bestrebt ist, nur der kann ermessen, welch' tiefe De¬
moralisation das Strandwesen auch in seiner heutigen Gestalt noch im Ge¬
folge hat, welch' sittlicher Krebsschaden dasselbe für die Küsten- und Jnsel-
bevölkerung ist, und wie entsetzlich schwer es hält, seit Jahrhunderten im Volk
Angewurzelte falsche und verwerfliche Begriffe auszurotten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/411>, abgerufen am 21.05.2024.