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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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pessimistische Zug darin widerspricht dem frohen Grundton des modernen
deutschen Lebens, aber die wundervolle Feinheit der Situationen und Charak-
tere wäre unsern Schauspielern und den gebildeten Zuschauern doch ein unge¬
wöhnlicher und belehrender Genuß. Aus einem andern Grund empfehlen wir unsern
Bühnen das altfranzösische Stück: die Lästigen. Will man bei irgend einer zweihun¬
dertjährigen Gedächtnißseier an den größten dramatischen Dichter unserer Nachbarn
erinnern, so gibt dieses kleine Lustspiel reichlich Gelegenheit, Eigenthümlichkeiten
der alten Bühne und des scenischen Arrangements in belustigender Weise ein¬
zuführen, und es enthält außerdem eine solche Fülle und Mannigfaltigkeit
charakteristischer Rollen, daß uns kein anderes Stück bekannt ist, in welchem
eine Bühne alle Fächer des Lustspiels so zierlich und dankbar wie in einer
Reihe von Bildern hinter einander vorführen könnte. Das Lustspiel selbst ist
ein anspruchloses Gelcgenheitsstück, die Handlung so einfach als möglich. Ein
Herr des Hofes wünscht in den öffentlichen Anlagen um das königliche Schloß
mit seiner geliebten Dame zusammenzutreffen, das Rendezvous wird immer
wieder aufgehalten und gestört durch das Eindringen bekannter Herren und
Damen des Hofes oder fremder Zudringlicher, bis zuletzt dem Liebenden eine
Erklärung und die Versöhnung mit dem feindlichen Vormund der Geliebten
gelingt.*) Die Handlung wird unterbrochen durch Ballet in Charaktermasken
aus der Zeit Ludwigs XIV., welche sich der Scenerie und Handlung geschickt a".
passen und gleich den auftretenden Rollen die Vereinigung der Liebenden hindern.
Der größte Reiz des Stückes liegt in der wahren und detaillirten Schilderung
der auftretenden Cavaliere und Schmarotzer des Hofes, es sind eine Reihe
typischer Charaktere: der Kunstkenner, der Spieler, der Duellant, der unge¬
schickte Jäger, der Projectmacher u. ",, fast Jeder nur mit einer Scene,
alle sehr ergötzlich und wirksam. Ein Charakterdarsteller mit reichen Mitteln
erhielte hier Gelegenheit und ausnahmsweise auch Berechtigung, sich in meh¬
reren Rollen zu empfehlen. Die Einrichtung der Bühne ließe sich leicht dem
altfranzösischen Theater so anpassen, daß das Stück den Charakter eines Gele¬
genheitsstücks erhält, welches vor dem Hose gespielt wird. Für die Auf¬
führung haben leider alle Stücke Molieres den Uebelstand, daß unsern Dar¬
stellern die Technik für seine Charakterschilderung in unsern großen Schauspiel¬
häusern mit reißender Schnelle verloren geht, und daß zur Zeit nur noch sehr
wenige sich in Kniehosen und altfranzöstscher Tracht gut darzustellen wissen.
Auch dafür und für pointirte Conversation ist ein Stück Molieres die beste
Schule.



") Am Schluß, den Moliere in seiner Weise sehr leicht behandelt hat, ist eine unbe-
bedeutende Aenderung nöthig, Philinen, der Freund des Liebende", muß vor der Schlußscene
seinen Freund nicht sich selbst überlassen, sondern ohne Wissen desselben die Raufbolde seiner
Partei herbeiwinken, um den Freund zu schützen.
Grenzboten IV. 5V

pessimistische Zug darin widerspricht dem frohen Grundton des modernen
deutschen Lebens, aber die wundervolle Feinheit der Situationen und Charak-
tere wäre unsern Schauspielern und den gebildeten Zuschauern doch ein unge¬
wöhnlicher und belehrender Genuß. Aus einem andern Grund empfehlen wir unsern
Bühnen das altfranzösische Stück: die Lästigen. Will man bei irgend einer zweihun¬
dertjährigen Gedächtnißseier an den größten dramatischen Dichter unserer Nachbarn
erinnern, so gibt dieses kleine Lustspiel reichlich Gelegenheit, Eigenthümlichkeiten
der alten Bühne und des scenischen Arrangements in belustigender Weise ein¬
zuführen, und es enthält außerdem eine solche Fülle und Mannigfaltigkeit
charakteristischer Rollen, daß uns kein anderes Stück bekannt ist, in welchem
eine Bühne alle Fächer des Lustspiels so zierlich und dankbar wie in einer
Reihe von Bildern hinter einander vorführen könnte. Das Lustspiel selbst ist
ein anspruchloses Gelcgenheitsstück, die Handlung so einfach als möglich. Ein
Herr des Hofes wünscht in den öffentlichen Anlagen um das königliche Schloß
mit seiner geliebten Dame zusammenzutreffen, das Rendezvous wird immer
wieder aufgehalten und gestört durch das Eindringen bekannter Herren und
Damen des Hofes oder fremder Zudringlicher, bis zuletzt dem Liebenden eine
Erklärung und die Versöhnung mit dem feindlichen Vormund der Geliebten
gelingt.*) Die Handlung wird unterbrochen durch Ballet in Charaktermasken
aus der Zeit Ludwigs XIV., welche sich der Scenerie und Handlung geschickt a».
passen und gleich den auftretenden Rollen die Vereinigung der Liebenden hindern.
Der größte Reiz des Stückes liegt in der wahren und detaillirten Schilderung
der auftretenden Cavaliere und Schmarotzer des Hofes, es sind eine Reihe
typischer Charaktere: der Kunstkenner, der Spieler, der Duellant, der unge¬
schickte Jäger, der Projectmacher u. «,, fast Jeder nur mit einer Scene,
alle sehr ergötzlich und wirksam. Ein Charakterdarsteller mit reichen Mitteln
erhielte hier Gelegenheit und ausnahmsweise auch Berechtigung, sich in meh¬
reren Rollen zu empfehlen. Die Einrichtung der Bühne ließe sich leicht dem
altfranzösischen Theater so anpassen, daß das Stück den Charakter eines Gele¬
genheitsstücks erhält, welches vor dem Hose gespielt wird. Für die Auf¬
führung haben leider alle Stücke Molieres den Uebelstand, daß unsern Dar¬
stellern die Technik für seine Charakterschilderung in unsern großen Schauspiel¬
häusern mit reißender Schnelle verloren geht, und daß zur Zeit nur noch sehr
wenige sich in Kniehosen und altfranzöstscher Tracht gut darzustellen wissen.
Auch dafür und für pointirte Conversation ist ein Stück Molieres die beste
Schule.



") Am Schluß, den Moliere in seiner Weise sehr leicht behandelt hat, ist eine unbe-
bedeutende Aenderung nöthig, Philinen, der Freund des Liebende», muß vor der Schlußscene
seinen Freund nicht sich selbst überlassen, sondern ohne Wissen desselben die Raufbolde seiner
Partei herbeiwinken, um den Freund zu schützen.
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[0441] pessimistische Zug darin widerspricht dem frohen Grundton des modernen deutschen Lebens, aber die wundervolle Feinheit der Situationen und Charak- tere wäre unsern Schauspielern und den gebildeten Zuschauern doch ein unge¬ wöhnlicher und belehrender Genuß. Aus einem andern Grund empfehlen wir unsern Bühnen das altfranzösische Stück: die Lästigen. Will man bei irgend einer zweihun¬ dertjährigen Gedächtnißseier an den größten dramatischen Dichter unserer Nachbarn erinnern, so gibt dieses kleine Lustspiel reichlich Gelegenheit, Eigenthümlichkeiten der alten Bühne und des scenischen Arrangements in belustigender Weise ein¬ zuführen, und es enthält außerdem eine solche Fülle und Mannigfaltigkeit charakteristischer Rollen, daß uns kein anderes Stück bekannt ist, in welchem eine Bühne alle Fächer des Lustspiels so zierlich und dankbar wie in einer Reihe von Bildern hinter einander vorführen könnte. Das Lustspiel selbst ist ein anspruchloses Gelcgenheitsstück, die Handlung so einfach als möglich. Ein Herr des Hofes wünscht in den öffentlichen Anlagen um das königliche Schloß mit seiner geliebten Dame zusammenzutreffen, das Rendezvous wird immer wieder aufgehalten und gestört durch das Eindringen bekannter Herren und Damen des Hofes oder fremder Zudringlicher, bis zuletzt dem Liebenden eine Erklärung und die Versöhnung mit dem feindlichen Vormund der Geliebten gelingt.*) Die Handlung wird unterbrochen durch Ballet in Charaktermasken aus der Zeit Ludwigs XIV., welche sich der Scenerie und Handlung geschickt a». passen und gleich den auftretenden Rollen die Vereinigung der Liebenden hindern. Der größte Reiz des Stückes liegt in der wahren und detaillirten Schilderung der auftretenden Cavaliere und Schmarotzer des Hofes, es sind eine Reihe typischer Charaktere: der Kunstkenner, der Spieler, der Duellant, der unge¬ schickte Jäger, der Projectmacher u. «,, fast Jeder nur mit einer Scene, alle sehr ergötzlich und wirksam. Ein Charakterdarsteller mit reichen Mitteln erhielte hier Gelegenheit und ausnahmsweise auch Berechtigung, sich in meh¬ reren Rollen zu empfehlen. Die Einrichtung der Bühne ließe sich leicht dem altfranzösischen Theater so anpassen, daß das Stück den Charakter eines Gele¬ genheitsstücks erhält, welches vor dem Hose gespielt wird. Für die Auf¬ führung haben leider alle Stücke Molieres den Uebelstand, daß unsern Dar¬ stellern die Technik für seine Charakterschilderung in unsern großen Schauspiel¬ häusern mit reißender Schnelle verloren geht, und daß zur Zeit nur noch sehr wenige sich in Kniehosen und altfranzöstscher Tracht gut darzustellen wissen. Auch dafür und für pointirte Conversation ist ein Stück Molieres die beste Schule. ") Am Schluß, den Moliere in seiner Weise sehr leicht behandelt hat, ist eine unbe- bedeutende Aenderung nöthig, Philinen, der Freund des Liebende», muß vor der Schlußscene seinen Freund nicht sich selbst überlassen, sondern ohne Wissen desselben die Raufbolde seiner Partei herbeiwinken, um den Freund zu schützen. Grenzboten IV. 5V

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/441>, abgerufen am 06.05.2024.