Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.Charaktertypen und komische Situationen, das Entlehnte nach den Bedürfnissen Es ist wahr, auch Moliere benutzte harmlos fremde Stoffe, wo er sie Oft sehen wir in modernen Stücken Erfindung oder Zurichtung Molieres, Charaktertypen und komische Situationen, das Entlehnte nach den Bedürfnissen Es ist wahr, auch Moliere benutzte harmlos fremde Stoffe, wo er sie Oft sehen wir in modernen Stücken Erfindung oder Zurichtung Molieres, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0440" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/192201"/> <p xml:id="ID_1230" prev="#ID_1229"> Charaktertypen und komische Situationen, das Entlehnte nach den Bedürfnissen<lb/> ihrer Zeit zustutzend; bis in die neueste Zeit dauert dieser Diebstahl, und es<lb/> wäre eine der interessantesten Aufgaben einer Geschichte dramatischer Kunst,<lb/> die Dauer und Wandlungen uralter Stoffe durch mehr als zwei Jahrtausende<lb/> nachzuweisen. Jede dramatische Zeit eines Volkes hat dem vorhandenen Vor¬<lb/> rat!) von Motiven, Situationen und Rollen einiges von eigener Erfindung zu¬<lb/> gefügt, es scheint, daß den Romanen immer leichter wurde, die Handlung neu<lb/> zusammenzuflechten, den Germanen, Charaktere zu schaffen. Doch ist der Reich¬<lb/> thum an letzteren in Wahrheit nicht groß, und auch wir vertragen auf unserer<lb/> Bühne noch in ^hundert Fällen ein Verhältniß zwischen Herrn und Diener,<lb/> Heldin und Kammermädchen, welches jetzt völlig unwahr, aus dem Verkehr<lb/> der Hellenen mit Haussclavcn und Hetären seit mehr als zwei Jahrtausenden<lb/> übriggeblieben ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1231"> Es ist wahr, auch Moliere benutzte harmlos fremde Stoffe, wo er sie<lb/> fand, von Römern, Italienern, Spaniern, auch bei ihm ist der Werth der<lb/> eigenen Arbeit sehr verschieden, aber seine besten Dramen sind nicht nur in<lb/> den Charakteren, auch in Zusammensetzung der Handlung völlig sein eigen, und<lb/> gerade in diesen sind Ehrlichkeit und Reichthum seiner Erfindung bewunderungs¬<lb/> würdig. Der Misanthrop, die gelehrten Frauen, die Lästigen werden jederzeit<lb/> für Meisterstücke eleganter, wahrer und schöner Charakteristik und Scenenfüh¬<lb/> rung gelten. Und in seinem Dichtcrtalent ist etwas Deutsches, das ihn von<lb/> den französischen Dichtern, der mittelalterlichen Heldengedichte, wie von den<lb/> meisten modernen Franzosen, z. B. Scribe und Dumas, wesentlich unterscheidet;<lb/> es wird ihm leichter, originale Charaktere in merkwürdig correcten Linien zu<lb/> zeichnen, als selbständig eine spannende Handlung zusammenzusetzen. Aber<lb/> den Deutschen überlegen ist er durch die ganz einzige und unübertroffene Weise,<lb/> rü welcher er seine Scenen organisirt, ihre Wirkungen steigert und weise auf<lb/> das für die Gesammthandlung Nöthige beschränkt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1232" next="#ID_1233"> Oft sehen wir in modernen Stücken Erfindung oder Zurichtung Molieres,<lb/> ohne an den eigentlichen Erfinder zu denken, unter seinem Namen ist fast nur<lb/> der Tartüffe auf dem deutschen Bühnenrepertvir erhalten. Nicht das beste<lb/> seiner großen Stücke. Die meisterhafte Zeichnung des Hauptcharaklcrs vermag<lb/> nicht ganz den peinlichen Eindruck zu beseitigen, welchen die erbärmliche Schwäche<lb/> des Orgon hervorbringt, trotz der klugen Einschränkung der Hauptrolle in die<lb/> letzten Akte wird an ihr eine gewisse Monotonie fühlbar, und daß die Lösung<lb/> zuletzt durch die Polizei herbeigeführt werden muß, ist unserer Empfindung un¬<lb/> bequem. Wir meinen aber, zwei Stücke von Moliere sollten der deutschen Bühne<lb/> nicht fehlen, welche beide der Kunst des Darstellers und dem Zusammenspiel die<lb/> höchsten Aufgaben stellen: der Misanthrop und die Lästigen. Auch der Misan¬<lb/> throp vermag nicht ein Lieblingsstück der schaulustigen Menge zu werden, der</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0440]
Charaktertypen und komische Situationen, das Entlehnte nach den Bedürfnissen
ihrer Zeit zustutzend; bis in die neueste Zeit dauert dieser Diebstahl, und es
wäre eine der interessantesten Aufgaben einer Geschichte dramatischer Kunst,
die Dauer und Wandlungen uralter Stoffe durch mehr als zwei Jahrtausende
nachzuweisen. Jede dramatische Zeit eines Volkes hat dem vorhandenen Vor¬
rat!) von Motiven, Situationen und Rollen einiges von eigener Erfindung zu¬
gefügt, es scheint, daß den Romanen immer leichter wurde, die Handlung neu
zusammenzuflechten, den Germanen, Charaktere zu schaffen. Doch ist der Reich¬
thum an letzteren in Wahrheit nicht groß, und auch wir vertragen auf unserer
Bühne noch in ^hundert Fällen ein Verhältniß zwischen Herrn und Diener,
Heldin und Kammermädchen, welches jetzt völlig unwahr, aus dem Verkehr
der Hellenen mit Haussclavcn und Hetären seit mehr als zwei Jahrtausenden
übriggeblieben ist.
Es ist wahr, auch Moliere benutzte harmlos fremde Stoffe, wo er sie
fand, von Römern, Italienern, Spaniern, auch bei ihm ist der Werth der
eigenen Arbeit sehr verschieden, aber seine besten Dramen sind nicht nur in
den Charakteren, auch in Zusammensetzung der Handlung völlig sein eigen, und
gerade in diesen sind Ehrlichkeit und Reichthum seiner Erfindung bewunderungs¬
würdig. Der Misanthrop, die gelehrten Frauen, die Lästigen werden jederzeit
für Meisterstücke eleganter, wahrer und schöner Charakteristik und Scenenfüh¬
rung gelten. Und in seinem Dichtcrtalent ist etwas Deutsches, das ihn von
den französischen Dichtern, der mittelalterlichen Heldengedichte, wie von den
meisten modernen Franzosen, z. B. Scribe und Dumas, wesentlich unterscheidet;
es wird ihm leichter, originale Charaktere in merkwürdig correcten Linien zu
zeichnen, als selbständig eine spannende Handlung zusammenzusetzen. Aber
den Deutschen überlegen ist er durch die ganz einzige und unübertroffene Weise,
rü welcher er seine Scenen organisirt, ihre Wirkungen steigert und weise auf
das für die Gesammthandlung Nöthige beschränkt.
Oft sehen wir in modernen Stücken Erfindung oder Zurichtung Molieres,
ohne an den eigentlichen Erfinder zu denken, unter seinem Namen ist fast nur
der Tartüffe auf dem deutschen Bühnenrepertvir erhalten. Nicht das beste
seiner großen Stücke. Die meisterhafte Zeichnung des Hauptcharaklcrs vermag
nicht ganz den peinlichen Eindruck zu beseitigen, welchen die erbärmliche Schwäche
des Orgon hervorbringt, trotz der klugen Einschränkung der Hauptrolle in die
letzten Akte wird an ihr eine gewisse Monotonie fühlbar, und daß die Lösung
zuletzt durch die Polizei herbeigeführt werden muß, ist unserer Empfindung un¬
bequem. Wir meinen aber, zwei Stücke von Moliere sollten der deutschen Bühne
nicht fehlen, welche beide der Kunst des Darstellers und dem Zusammenspiel die
höchsten Aufgaben stellen: der Misanthrop und die Lästigen. Auch der Misan¬
throp vermag nicht ein Lieblingsstück der schaulustigen Menge zu werden, der
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