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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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fand er den Sohn, der so eben aus dem Schlaf erwachte und vom Tode auf¬
erstand; vor Freude sprachlos schloß er ihn in seine Arme und brachte ihn
hinaus vor das Volk. Wie er war, in die Leichenbinden eingewickelt, wurde
der Knabe vor den Richter geführt. Als nun das Verbrechen des Sklaven und
der Frau klar vorlag und die Wahrheit an den Tag kam, da wurde die Stief¬
mutter zu lebenslänglicher Verbannung, der Sklave zum Kreuzestod verurtheilt;
dem braven Arzt aber wurden unter allgemeiner Beistimmung die 100 Gold¬
stücke als Belohnung für den rettenden Schlaf zugesprochen. So wurden durch
die wunderbare Schickung der Vorsehung dem alten Vater in demselben Augen¬
blick zwei Söhne wiedergegeben, wo er sich beider beraubt glaubte. -- '




Im Verhältniß zu modernen Leistungen sind die Motive sehr einfach, wenn
auch hinreichend drastisch; indessen überzeugt man sich auch aus dieser Crimi-
nalgeschichte -- und das bestätigt sich bei einer Musterung der antiken Unter¬
haltungsliteratur auf Schritt und Tritt --, daß es ein gewisser beschränkter
Fonds von Hauptmotiven und Situationen ist, mit denen die antike wie die
moderne Novellistik ihre wesentliche Wirkung auf das nach leichter Unterhaltung
verlangende Publikum ausübt. Die neuere Forschung hat in großartiger Weise
dargethan, wie die Sage und die aus dieser abgeleiteten Mährchen und Fabeln
nicht blos äußerlich von Volk zu Volk, von Jahrhundert zu Jahrhundert über¬
liefert worden sind, sondern wie aus der Tiefe der einem großen Volksstamme
von Ursprung her gemeinsamen Empfindung und Auffassung noch ein Hauch
der schaffenden Kraft bis in die fernsten Zeiten weiterbildend geheimnißvoll
mitwirkt. Diese Beobachtung gilt in einem gewissen Grade auch von der Novelle.
Da sie am spätesten und unter dem Einfluß bestimmt ausgeprägter Culturverhält¬
nisse entstanden ist, macht sich das Moment der äußerlichen Übertragung hier am
entschiedensten geltend, indessen würde die versetzte Pflanze nicht wie eine hei¬
mische gedeihen, fände die Wurzel nicht entsprechenden Grund und Boden. Die
Wirkung der Novellen des Apulejus aus das römische Publikum beruhte frei¬
lich wesentlich mit auf dem prickelnden Reiz seiner überkünstelten Ausdrucks¬
weise, auf welchen die Übersetzung verzichten mußte; wahrscheinlich aber wird
damals so gut wie heute das stoffliche Interesse für den Inhalt bei einem guten
Theil des lesenden Publikums das eigentlich packende gewesen sein, und so
können sie auch in dieser Abschwächung noch als Zeugnisse für das dienen, was
Autor und Leser jener Zeit als Untcrhaltungsleeture ansahen und gelten ließen.


Otto Jahr.


fand er den Sohn, der so eben aus dem Schlaf erwachte und vom Tode auf¬
erstand; vor Freude sprachlos schloß er ihn in seine Arme und brachte ihn
hinaus vor das Volk. Wie er war, in die Leichenbinden eingewickelt, wurde
der Knabe vor den Richter geführt. Als nun das Verbrechen des Sklaven und
der Frau klar vorlag und die Wahrheit an den Tag kam, da wurde die Stief¬
mutter zu lebenslänglicher Verbannung, der Sklave zum Kreuzestod verurtheilt;
dem braven Arzt aber wurden unter allgemeiner Beistimmung die 100 Gold¬
stücke als Belohnung für den rettenden Schlaf zugesprochen. So wurden durch
die wunderbare Schickung der Vorsehung dem alten Vater in demselben Augen¬
blick zwei Söhne wiedergegeben, wo er sich beider beraubt glaubte. — '




Im Verhältniß zu modernen Leistungen sind die Motive sehr einfach, wenn
auch hinreichend drastisch; indessen überzeugt man sich auch aus dieser Crimi-
nalgeschichte — und das bestätigt sich bei einer Musterung der antiken Unter¬
haltungsliteratur auf Schritt und Tritt —, daß es ein gewisser beschränkter
Fonds von Hauptmotiven und Situationen ist, mit denen die antike wie die
moderne Novellistik ihre wesentliche Wirkung auf das nach leichter Unterhaltung
verlangende Publikum ausübt. Die neuere Forschung hat in großartiger Weise
dargethan, wie die Sage und die aus dieser abgeleiteten Mährchen und Fabeln
nicht blos äußerlich von Volk zu Volk, von Jahrhundert zu Jahrhundert über¬
liefert worden sind, sondern wie aus der Tiefe der einem großen Volksstamme
von Ursprung her gemeinsamen Empfindung und Auffassung noch ein Hauch
der schaffenden Kraft bis in die fernsten Zeiten weiterbildend geheimnißvoll
mitwirkt. Diese Beobachtung gilt in einem gewissen Grade auch von der Novelle.
Da sie am spätesten und unter dem Einfluß bestimmt ausgeprägter Culturverhält¬
nisse entstanden ist, macht sich das Moment der äußerlichen Übertragung hier am
entschiedensten geltend, indessen würde die versetzte Pflanze nicht wie eine hei¬
mische gedeihen, fände die Wurzel nicht entsprechenden Grund und Boden. Die
Wirkung der Novellen des Apulejus aus das römische Publikum beruhte frei¬
lich wesentlich mit auf dem prickelnden Reiz seiner überkünstelten Ausdrucks¬
weise, auf welchen die Übersetzung verzichten mußte; wahrscheinlich aber wird
damals so gut wie heute das stoffliche Interesse für den Inhalt bei einem guten
Theil des lesenden Publikums das eigentlich packende gewesen sein, und so
können sie auch in dieser Abschwächung noch als Zeugnisse für das dienen, was
Autor und Leser jener Zeit als Untcrhaltungsleeture ansahen und gelten ließen.


Otto Jahr.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/472>, abgerufen am 04.05.2024.