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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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älteren Opern berücksichtigen, deren vollständige Aufführung uns jetzt versagt
ist. wie z. B. die Finales aus Titus. Idomeneo u. A. --

Für Gesangproduktionen besteht außer dem schon genannten Singvcrein auch
eine Singakademie, die aber erst im Dezember ihre Wirksamkeit wieder auf¬
nimmt. Mit Männergesangvereinen ist Wien fast überschwemmt; den akade¬
mischen Gesangverein ausgenommen überragt jedoch der ursprüngliche erste
wiener Männergesangverein, im Jahre 1844 von Dr. Aug. Schmidt
gegründet, alle andern durch Stimmenanzahl und vollendete Vorträge. Schu¬
bert ist hier durch seine herrlichen Chöre vorzugsweise vertreten und dieselben
werden wohl nirgends mit größerer Vollendung vorgetragen. Dies ist das
Verdienst des jetzigen Hofkapellmeisters Herbeck und daneben des Chormeisters
Weinwurm. Bei der großen Anzahl Gesangskräfte, die Wien besitzt, ist
lebhaft zu bedauern, daß nicht wenigstens einmal jährlich sämmtliche Vereine
sich verbinden, um ein großes, auf Massen berechnetes Oratorium aufzuführen.
Wien besitzt dazu einen Saal, wie kaum eine zweite Stadt -- die große Reit¬
schule in der Burg, welche in früherer Zeit der Schauplatz für alle großen
Musikfeste abgab. --

Die Privateoncerte gewinnen diesmal durch Betheiligung der gefeier¬
ten Künstler Joachim, Rubinstein und Brahms einen besonderen Reiz. An
Rubinstein bewundert man wieder wie vor zehn Jahren den unvergleichlichen
Anschlag, die Zartheit und männliche Kraft, welche letztere freilich zuweilen über¬
schauend; man tadelt aber auch die Ungleichheit seiner Leistungen (namentlich
bei fremden Kompositionen), in denen auch das virtuose Element allzusehr her¬
vortritt. Von seinen Kompositionen griffen am meisten sein Clavierconcert
in v-moll, ox. 70 und das H-moIl Trio durch; die kleineren Klavierstücke sind
fast alle unbedeutend, oft seelenlos. Daß des Künstlers umfangreicheren Wer¬
ken meist die Einheit gebricht und daß dieselben in ihrer Ganzheit selten einen
vollkommen befriedigenden Eindruck gewähren, ist schon früher oft beklagt
worden. Man bedauert diese Mängel um so mehr, als man überzeugt ist.
daß denselben abgeholfen werden könnte; überall sind herrliche Anläufe und
Gedanken, deren Wetterführung aber sehr selten auf der Höhe der Intention
bleibt. -- Brahms hat mit Joachim zusammen ein Concert gegeben und in
demselben ganz unvergleichlich gespielt; doch scheint er es bis jetzt zu verschmähen,
sich neben seinem Kunstbruder hervorzudrängen. Selbst mit neueren Kompo¬
sitionen war er zurückhaltend; mit um so größerem Interesse sieht man darum
der Aufführung seines neuen deutschen Requiem entgegen. -- Joachim hat
wieder einen jener Triumphe gefeiert, wie sie nur solchen vergönnt sind, welche
schon in der Wiege die Weihe als Priester der Kunst empfingen. Sein echt
männliches Spiel, frei von aller eiteln Selbstsucht, sein anspruchloses Auftreten
hat wieder alle Herzen gewonnen. Er will nie glänzen, ihm ist es nur darum


älteren Opern berücksichtigen, deren vollständige Aufführung uns jetzt versagt
ist. wie z. B. die Finales aus Titus. Idomeneo u. A. —

Für Gesangproduktionen besteht außer dem schon genannten Singvcrein auch
eine Singakademie, die aber erst im Dezember ihre Wirksamkeit wieder auf¬
nimmt. Mit Männergesangvereinen ist Wien fast überschwemmt; den akade¬
mischen Gesangverein ausgenommen überragt jedoch der ursprüngliche erste
wiener Männergesangverein, im Jahre 1844 von Dr. Aug. Schmidt
gegründet, alle andern durch Stimmenanzahl und vollendete Vorträge. Schu¬
bert ist hier durch seine herrlichen Chöre vorzugsweise vertreten und dieselben
werden wohl nirgends mit größerer Vollendung vorgetragen. Dies ist das
Verdienst des jetzigen Hofkapellmeisters Herbeck und daneben des Chormeisters
Weinwurm. Bei der großen Anzahl Gesangskräfte, die Wien besitzt, ist
lebhaft zu bedauern, daß nicht wenigstens einmal jährlich sämmtliche Vereine
sich verbinden, um ein großes, auf Massen berechnetes Oratorium aufzuführen.
Wien besitzt dazu einen Saal, wie kaum eine zweite Stadt — die große Reit¬
schule in der Burg, welche in früherer Zeit der Schauplatz für alle großen
Musikfeste abgab. —

Die Privateoncerte gewinnen diesmal durch Betheiligung der gefeier¬
ten Künstler Joachim, Rubinstein und Brahms einen besonderen Reiz. An
Rubinstein bewundert man wieder wie vor zehn Jahren den unvergleichlichen
Anschlag, die Zartheit und männliche Kraft, welche letztere freilich zuweilen über¬
schauend; man tadelt aber auch die Ungleichheit seiner Leistungen (namentlich
bei fremden Kompositionen), in denen auch das virtuose Element allzusehr her¬
vortritt. Von seinen Kompositionen griffen am meisten sein Clavierconcert
in v-moll, ox. 70 und das H-moIl Trio durch; die kleineren Klavierstücke sind
fast alle unbedeutend, oft seelenlos. Daß des Künstlers umfangreicheren Wer¬
ken meist die Einheit gebricht und daß dieselben in ihrer Ganzheit selten einen
vollkommen befriedigenden Eindruck gewähren, ist schon früher oft beklagt
worden. Man bedauert diese Mängel um so mehr, als man überzeugt ist.
daß denselben abgeholfen werden könnte; überall sind herrliche Anläufe und
Gedanken, deren Wetterführung aber sehr selten auf der Höhe der Intention
bleibt. — Brahms hat mit Joachim zusammen ein Concert gegeben und in
demselben ganz unvergleichlich gespielt; doch scheint er es bis jetzt zu verschmähen,
sich neben seinem Kunstbruder hervorzudrängen. Selbst mit neueren Kompo¬
sitionen war er zurückhaltend; mit um so größerem Interesse sieht man darum
der Aufführung seines neuen deutschen Requiem entgegen. — Joachim hat
wieder einen jener Triumphe gefeiert, wie sie nur solchen vergönnt sind, welche
schon in der Wiege die Weihe als Priester der Kunst empfingen. Sein echt
männliches Spiel, frei von aller eiteln Selbstsucht, sein anspruchloses Auftreten
hat wieder alle Herzen gewonnen. Er will nie glänzen, ihm ist es nur darum


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[0478] älteren Opern berücksichtigen, deren vollständige Aufführung uns jetzt versagt ist. wie z. B. die Finales aus Titus. Idomeneo u. A. — Für Gesangproduktionen besteht außer dem schon genannten Singvcrein auch eine Singakademie, die aber erst im Dezember ihre Wirksamkeit wieder auf¬ nimmt. Mit Männergesangvereinen ist Wien fast überschwemmt; den akade¬ mischen Gesangverein ausgenommen überragt jedoch der ursprüngliche erste wiener Männergesangverein, im Jahre 1844 von Dr. Aug. Schmidt gegründet, alle andern durch Stimmenanzahl und vollendete Vorträge. Schu¬ bert ist hier durch seine herrlichen Chöre vorzugsweise vertreten und dieselben werden wohl nirgends mit größerer Vollendung vorgetragen. Dies ist das Verdienst des jetzigen Hofkapellmeisters Herbeck und daneben des Chormeisters Weinwurm. Bei der großen Anzahl Gesangskräfte, die Wien besitzt, ist lebhaft zu bedauern, daß nicht wenigstens einmal jährlich sämmtliche Vereine sich verbinden, um ein großes, auf Massen berechnetes Oratorium aufzuführen. Wien besitzt dazu einen Saal, wie kaum eine zweite Stadt — die große Reit¬ schule in der Burg, welche in früherer Zeit der Schauplatz für alle großen Musikfeste abgab. — Die Privateoncerte gewinnen diesmal durch Betheiligung der gefeier¬ ten Künstler Joachim, Rubinstein und Brahms einen besonderen Reiz. An Rubinstein bewundert man wieder wie vor zehn Jahren den unvergleichlichen Anschlag, die Zartheit und männliche Kraft, welche letztere freilich zuweilen über¬ schauend; man tadelt aber auch die Ungleichheit seiner Leistungen (namentlich bei fremden Kompositionen), in denen auch das virtuose Element allzusehr her¬ vortritt. Von seinen Kompositionen griffen am meisten sein Clavierconcert in v-moll, ox. 70 und das H-moIl Trio durch; die kleineren Klavierstücke sind fast alle unbedeutend, oft seelenlos. Daß des Künstlers umfangreicheren Wer¬ ken meist die Einheit gebricht und daß dieselben in ihrer Ganzheit selten einen vollkommen befriedigenden Eindruck gewähren, ist schon früher oft beklagt worden. Man bedauert diese Mängel um so mehr, als man überzeugt ist. daß denselben abgeholfen werden könnte; überall sind herrliche Anläufe und Gedanken, deren Wetterführung aber sehr selten auf der Höhe der Intention bleibt. — Brahms hat mit Joachim zusammen ein Concert gegeben und in demselben ganz unvergleichlich gespielt; doch scheint er es bis jetzt zu verschmähen, sich neben seinem Kunstbruder hervorzudrängen. Selbst mit neueren Kompo¬ sitionen war er zurückhaltend; mit um so größerem Interesse sieht man darum der Aufführung seines neuen deutschen Requiem entgegen. — Joachim hat wieder einen jener Triumphe gefeiert, wie sie nur solchen vergönnt sind, welche schon in der Wiege die Weihe als Priester der Kunst empfingen. Sein echt männliches Spiel, frei von aller eiteln Selbstsucht, sein anspruchloses Auftreten hat wieder alle Herzen gewonnen. Er will nie glänzen, ihm ist es nur darum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/478>, abgerufen am 17.05.2024.