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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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wie die übrigen Reformen. Als im Jahre 1838 die leitenden Grundsätze
einer neuen Kirchenverfassung veröffentlicht wurden, schien es, als beabsichtige
man ein wirkliches Synodalsystem einzuführen, sofern ein organisches Ver¬
hältniß der Synode zur Kirchenleitung angestrebt wurde. Jetzt, nach dem
10 Jahre später fertig gewordenen Entwurf sollen sich Synode und Kirchen¬
regiment unvermittelt gegenüber stehen, jene ist mit einer dürftigen Competenz
ausgestattet, und ein officiöser Artikel beeilte sich mit der Warnung, daß die
künftige Synode nicht in einer systematischen Opposition, nicht in einem Kampf
um Ausdehnung ihrer Befugnisse ihre Aufgabe suchen möge. So ist das
Repräsentativsystem, eigener Lebenskraft beraubt, angeklebt an das Consistorial-
regiment, ähnlich wie in der Gerichtsverfassung die Kreisgerichte mit den be¬
stehenden Amtsgerichten combinirt, in der Verwaltung das Kreissystem mit
dem bestehenden Aemtersystem unglücklich verschmolzen ist.

Dies sind die Reformen, mit welchen die Regierung das Land über¬
schüttet hat, mit welchen sie die Lebensfähigkeit des Staats zu beweisen und
zu erhöhen gedenkt. Es dünkt uns, vorsichtiger wäre es gewesen, wenn man
die Lebensfähigkeit des würtembergischen Staats nicht so in den Vordergrund
gerückt und auf eine so bedenkliche Probe gestellt hätte. Zum mindesten hat
sich die Fähigkeit der Reformatoren nicht eben das glänzendste Zeugniß aus¬
gestellt. Schon dies ist bedenklich genug, daß die Regierung erst in den letzten
Wochen einer 6jährigen Wahlperiode, gerade vor Thorschluß, mit ihren Ent¬
würfen fertig geworden ist. An eine Durchberathung ist in dieser Kammer,
deren Mandat im Februar abläuft und die noch dringende Arbeiten genug
vor sich hat, nicht mehr zu denken. Die Vorlagen bleiben zunächst schätzbares
Material. Schon daraus erklärt sich die Teilnahmlosigkeit, mit welcher sie
allgemein aufgenommen worden sind. Aber sie erklärt sich noch aus einem
andern Grund. Vergebens bemüht sich die Regierung, das Interesse der
Staatsbürger von den nationalen Fragen zurückzubannen auf den engen Kreis
der schwarz-rothen Grenzpfähle. Der Glaube an die Zukunft der staatlichen
Sonderexistenz ist unwiderruflich dahin, auch bei denen, die es nicht Wort
haben wollen. Und wären die Reformen noch viel liberaler ausgefallen, das
Gefühl läßt sich nicht zurückdämmen, daß unsere Zukunft an das gemeinsame
deutsche Staatswesen geknüpft ist. Hiergegen kann die Frage, wie unsere
Kammern künftig zusammengesetzt werden sollen, nur ein untergeordnetes
Interesse erwecken. Im Vordergrund des Interesses steht die Gesammtver-
tretung deutscher Nation, die Vorbereitung der Wahlen zum Zollparlament.
Die Regierung selbst verräth durch außerordentliche Kundgebungen, wie es
die Rede des Herrn v. Varnbüler am 11. December, und wie es der un¬
glückliche Zeitungsartikel des Herrn v. Geßler am 8. Januar war, wie sehr
sie von diesem obersten Interesse beherrscht ist. Sie hat mit diesen Kund-


wie die übrigen Reformen. Als im Jahre 1838 die leitenden Grundsätze
einer neuen Kirchenverfassung veröffentlicht wurden, schien es, als beabsichtige
man ein wirkliches Synodalsystem einzuführen, sofern ein organisches Ver¬
hältniß der Synode zur Kirchenleitung angestrebt wurde. Jetzt, nach dem
10 Jahre später fertig gewordenen Entwurf sollen sich Synode und Kirchen¬
regiment unvermittelt gegenüber stehen, jene ist mit einer dürftigen Competenz
ausgestattet, und ein officiöser Artikel beeilte sich mit der Warnung, daß die
künftige Synode nicht in einer systematischen Opposition, nicht in einem Kampf
um Ausdehnung ihrer Befugnisse ihre Aufgabe suchen möge. So ist das
Repräsentativsystem, eigener Lebenskraft beraubt, angeklebt an das Consistorial-
regiment, ähnlich wie in der Gerichtsverfassung die Kreisgerichte mit den be¬
stehenden Amtsgerichten combinirt, in der Verwaltung das Kreissystem mit
dem bestehenden Aemtersystem unglücklich verschmolzen ist.

Dies sind die Reformen, mit welchen die Regierung das Land über¬
schüttet hat, mit welchen sie die Lebensfähigkeit des Staats zu beweisen und
zu erhöhen gedenkt. Es dünkt uns, vorsichtiger wäre es gewesen, wenn man
die Lebensfähigkeit des würtembergischen Staats nicht so in den Vordergrund
gerückt und auf eine so bedenkliche Probe gestellt hätte. Zum mindesten hat
sich die Fähigkeit der Reformatoren nicht eben das glänzendste Zeugniß aus¬
gestellt. Schon dies ist bedenklich genug, daß die Regierung erst in den letzten
Wochen einer 6jährigen Wahlperiode, gerade vor Thorschluß, mit ihren Ent¬
würfen fertig geworden ist. An eine Durchberathung ist in dieser Kammer,
deren Mandat im Februar abläuft und die noch dringende Arbeiten genug
vor sich hat, nicht mehr zu denken. Die Vorlagen bleiben zunächst schätzbares
Material. Schon daraus erklärt sich die Teilnahmlosigkeit, mit welcher sie
allgemein aufgenommen worden sind. Aber sie erklärt sich noch aus einem
andern Grund. Vergebens bemüht sich die Regierung, das Interesse der
Staatsbürger von den nationalen Fragen zurückzubannen auf den engen Kreis
der schwarz-rothen Grenzpfähle. Der Glaube an die Zukunft der staatlichen
Sonderexistenz ist unwiderruflich dahin, auch bei denen, die es nicht Wort
haben wollen. Und wären die Reformen noch viel liberaler ausgefallen, das
Gefühl läßt sich nicht zurückdämmen, daß unsere Zukunft an das gemeinsame
deutsche Staatswesen geknüpft ist. Hiergegen kann die Frage, wie unsere
Kammern künftig zusammengesetzt werden sollen, nur ein untergeordnetes
Interesse erwecken. Im Vordergrund des Interesses steht die Gesammtver-
tretung deutscher Nation, die Vorbereitung der Wahlen zum Zollparlament.
Die Regierung selbst verräth durch außerordentliche Kundgebungen, wie es
die Rede des Herrn v. Varnbüler am 11. December, und wie es der un¬
glückliche Zeitungsartikel des Herrn v. Geßler am 8. Januar war, wie sehr
sie von diesem obersten Interesse beherrscht ist. Sie hat mit diesen Kund-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/117>, abgerufen am 24.05.2024.