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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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lion treten hieß und einen bestimmten Termin für den Schluß der Wähler¬
listen ansetzte, bevor noch das Wahlgesetz zu Stande gekommen, publicirt
und in Kraft getreten war. Natürlich war jene Anordnung ungiltig, und
sobald die Presse Lärm schlug, war das Ministerium zu ihrer Zurücknahme
genöthigt; oder vielmehr sie wurde nicht zurückgenommen, sondern einfach
ignorirt, und mit Publikation des Gesetzes ging ein zweiter Befehl hinaus,
die Wahllisten aufzulegen. Dadurch wurde für die Anfertigung dieser Listen
eine weitere Zeit gewonnen; wie sie benutzt wurde, werden wir sogleich sehen.

Ein erheiternder Zwischenfall war es, als das Ministerium eines Tags
dem Gemeinderath der Stadt Stuttgart einen Ukas zugehen ließ, des In¬
halts, daß 13 städtische Wahlbezirke gebildet und für jeden derselben 3 Ge¬
meinderäthe zur Leitung des Wahlgeschäfts bestellt werden sollten. Der Ge¬
meinderath war in der Lage zu erwidern, daß'es ihm beim besten Willen
schlechterdings unmöglich sei, dieser Weisung nachzukommen, sintemal er be¬
kanntermaßen nur aus 24 Mitgliedern bestehe, während zu jenem Auftrag
nach Riese 6S Mitglieder aufzubringen wären. Niemals haben die Väter der
Stadt init edleren Bürgerstolze eine unbegründete Zumuthung des Ministe¬
riums zurückgewiesen!

Erinnerte dieser Zug stark an Schilda oder Abdera, so hatten einen
ernsteren Hintergrund die Versuche, dem allgemeinen Stimmrecht ein Schnipp¬
chen zu schlagen. Das Gesetz bestimmte, wie überall, daß jeder volljährige
und unbescholtene Bürger da, "wo er zur Zeit seinen Wohnsitz habe", das
Wahlrecht auszuüben habe. Nun ist der Ausdruck Wohnsitz bekanntlich ein
juristisch äußerst streitiger; ebendeswegen mochten die Gesetzgeber hinzugefügt
haben: "zur Zeit", und im übrigen Deutschland hat man nichts davon ge¬
hört, daß Controversen über die Auslegung dieses schwierigen Ausdrucks sich
erhoben hätten. Es war diese juristische Scrupulosität den würtembergischen
Staatsmännern vorbehalten, und um alle etwa auftauchende Bedenken zu
heben, erfolgte ein Rescript, wonach bei Anfertigung der Wählerlisten jene
Bestimmung auf den juristischen Begriff des Domieils einzuschränken sei. Da¬
durch wurden aber im Widerspruche mit dem Prinzip des allgemeinen Stimm¬
rechts eine Menge von Personen, insbesondere aus der Arbeiterbevölkerung,
ausgeschlossen, die nach den anderwärts überall geltenden Normen wahlberech¬
tigt waren. Ob dies einzig aus dem juristischen Gewissen unserer Regierenden
M erklären ist, oder vielleicht damit zusammenhing, daß in Stuttgart gerade
die Arbeiterbevölkerung entschieden national gesinnt ist, bleibe dahingestellt.
Genug, die Stuttgarter Wahlcommission protestirte sofort, sie hatte die Wahl¬
listen fertig, und zwar in liberalster Weise hergestellt, sie war nicht Willens,
auf eine einseitige Interpretation, zu welcher das Ministerium kaum legitimirt
schien, das Geschäft von neuem zu beginnen. Auch in den Kammern wurde


lion treten hieß und einen bestimmten Termin für den Schluß der Wähler¬
listen ansetzte, bevor noch das Wahlgesetz zu Stande gekommen, publicirt
und in Kraft getreten war. Natürlich war jene Anordnung ungiltig, und
sobald die Presse Lärm schlug, war das Ministerium zu ihrer Zurücknahme
genöthigt; oder vielmehr sie wurde nicht zurückgenommen, sondern einfach
ignorirt, und mit Publikation des Gesetzes ging ein zweiter Befehl hinaus,
die Wahllisten aufzulegen. Dadurch wurde für die Anfertigung dieser Listen
eine weitere Zeit gewonnen; wie sie benutzt wurde, werden wir sogleich sehen.

Ein erheiternder Zwischenfall war es, als das Ministerium eines Tags
dem Gemeinderath der Stadt Stuttgart einen Ukas zugehen ließ, des In¬
halts, daß 13 städtische Wahlbezirke gebildet und für jeden derselben 3 Ge¬
meinderäthe zur Leitung des Wahlgeschäfts bestellt werden sollten. Der Ge¬
meinderath war in der Lage zu erwidern, daß'es ihm beim besten Willen
schlechterdings unmöglich sei, dieser Weisung nachzukommen, sintemal er be¬
kanntermaßen nur aus 24 Mitgliedern bestehe, während zu jenem Auftrag
nach Riese 6S Mitglieder aufzubringen wären. Niemals haben die Väter der
Stadt init edleren Bürgerstolze eine unbegründete Zumuthung des Ministe¬
riums zurückgewiesen!

Erinnerte dieser Zug stark an Schilda oder Abdera, so hatten einen
ernsteren Hintergrund die Versuche, dem allgemeinen Stimmrecht ein Schnipp¬
chen zu schlagen. Das Gesetz bestimmte, wie überall, daß jeder volljährige
und unbescholtene Bürger da, „wo er zur Zeit seinen Wohnsitz habe", das
Wahlrecht auszuüben habe. Nun ist der Ausdruck Wohnsitz bekanntlich ein
juristisch äußerst streitiger; ebendeswegen mochten die Gesetzgeber hinzugefügt
haben: „zur Zeit", und im übrigen Deutschland hat man nichts davon ge¬
hört, daß Controversen über die Auslegung dieses schwierigen Ausdrucks sich
erhoben hätten. Es war diese juristische Scrupulosität den würtembergischen
Staatsmännern vorbehalten, und um alle etwa auftauchende Bedenken zu
heben, erfolgte ein Rescript, wonach bei Anfertigung der Wählerlisten jene
Bestimmung auf den juristischen Begriff des Domieils einzuschränken sei. Da¬
durch wurden aber im Widerspruche mit dem Prinzip des allgemeinen Stimm¬
rechts eine Menge von Personen, insbesondere aus der Arbeiterbevölkerung,
ausgeschlossen, die nach den anderwärts überall geltenden Normen wahlberech¬
tigt waren. Ob dies einzig aus dem juristischen Gewissen unserer Regierenden
M erklären ist, oder vielleicht damit zusammenhing, daß in Stuttgart gerade
die Arbeiterbevölkerung entschieden national gesinnt ist, bleibe dahingestellt.
Genug, die Stuttgarter Wahlcommission protestirte sofort, sie hatte die Wahl¬
listen fertig, und zwar in liberalster Weise hergestellt, sie war nicht Willens,
auf eine einseitige Interpretation, zu welcher das Ministerium kaum legitimirt
schien, das Geschäft von neuem zu beginnen. Auch in den Kammern wurde


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/439>, abgerufen am 18.06.2024.