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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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Parteien -- Hölder siegte mit 2845 gegen 2631 Stimmen -- zeigt, wie tief¬
gehend der Kampf war, der einzig um das nationale Programm gekämpft
wurde. Ueberhaupt scheint durch das allgemeine Stimmrecht der Antheil
des Volkes an politischen Dingen außerordentlich zu steigen. Die Veteranen
unseres öffentlichen Lebens erinnern sich noch der patriarchalischen Art und
Weise, wie am Anfang der 20er Jahre, also in den ersten Jahren unseres
Verfassungslebens -- von der bekannten vierhundertjährigen Dauer sehe ich
ab -- die Wahlen zum Landtag vor sich gingen. Damals fiel es noch keinem
Candidaten ein, persönlich um die Stimmen seiner Wähler zu werben, die
jetzt im kleinsten Dorf besucht und haranguirt sein wollen, und die sogar
unzufrieden sind, wenn der geplagte Candidat etwa blos im Wirthshaus zur
Sonne, und nicht auch noch im Bären oder im Ochsen seine Ansichten über
die Neugestaltung Deutschlands entwickelt. Damals pflegte einfach der Minister
an seine Unterbeamten in die Bezirke zu schreiben, der Herr Stadtschreiber
N. oder der Herr Amtspfleger Z. sei der Candidat. und ohne Kampf und
Anstrengung wurde dieser Candidat der ministeriellen Vorsehung gewählt,
vorausgesetzt, daß überhaupt gewählt wurde; denn es kam vor, daß nur
durch Vorhalt von Strafen oder Belohnungen die Wähler zur Ausübung
ihres Bürgerrechts gebracht werden konnten. Damals also galt hierzulande
in vollem Umfang, was der Minister Flaum Persigny in seinem Wahlrund¬
schreiben vom Februar 1852 sagte: "Welche Verlegenheit sür die Wähler,
wenn die Regierung nicht selber die Männer ihres Vertrauens bezeichnete!"
1830 und 1848 bezeichnen die successiven Stöße, welche dieses System der
Unschuld erschütterten und nun stehen wir wiederum vor einer neuen Aera
des politischen Lebens, vor einer wenig erfreulichen, wie Viele meinen, die
sich nicht mehr an die jetzt erforderlichen Formen und Mittel der Agitation
gewöhnen können, und die der Ansicht sind, daß die Lebendigkeit der Wahl-
und Qualwochen mit Allem was dazu gehört in Presse, in Wirthshäusern
und auf der nächtlichen Straße, doch eigentlich über die Gemüthlichkeit hinaus¬
gehe. Indessen darf man allerdings von unsern erstmaligen Erfahrungen
noch keinen Schluß auf die Wirkung des allgemeinen Stimmrechts auf unser
Volk überhaupt sich erlauben. Denn es waren exceptionelle Verhältnisse.
Der Respect vor der Staatsordnung -- wo nicht Kirchthurmsinteressen ihn
kriecherisch erheucheln -- ist in Schwaben überhaupt nie besonders ausge¬
bildet gewesen. Er mußte aber vollends in die Brüche gehen, als man die
Vertreter der Negierung Arm in Arm mit der Demagogie das Treibjagen
auf die "gebildeten und besitzenden Klassen" veranstalten sah. Die Nach¬
wirkung der Zollparlamentswahlen ist ungleich tiefer, als diejenigen sich ein¬
bilden mochten, die unbekümmert Alles mit allen Mitteln zusammenrafften,
um der nationalen Partei eine Niederlage beizubringen, die doch nur ein


Parteien — Hölder siegte mit 2845 gegen 2631 Stimmen — zeigt, wie tief¬
gehend der Kampf war, der einzig um das nationale Programm gekämpft
wurde. Ueberhaupt scheint durch das allgemeine Stimmrecht der Antheil
des Volkes an politischen Dingen außerordentlich zu steigen. Die Veteranen
unseres öffentlichen Lebens erinnern sich noch der patriarchalischen Art und
Weise, wie am Anfang der 20er Jahre, also in den ersten Jahren unseres
Verfassungslebens — von der bekannten vierhundertjährigen Dauer sehe ich
ab — die Wahlen zum Landtag vor sich gingen. Damals fiel es noch keinem
Candidaten ein, persönlich um die Stimmen seiner Wähler zu werben, die
jetzt im kleinsten Dorf besucht und haranguirt sein wollen, und die sogar
unzufrieden sind, wenn der geplagte Candidat etwa blos im Wirthshaus zur
Sonne, und nicht auch noch im Bären oder im Ochsen seine Ansichten über
die Neugestaltung Deutschlands entwickelt. Damals pflegte einfach der Minister
an seine Unterbeamten in die Bezirke zu schreiben, der Herr Stadtschreiber
N. oder der Herr Amtspfleger Z. sei der Candidat. und ohne Kampf und
Anstrengung wurde dieser Candidat der ministeriellen Vorsehung gewählt,
vorausgesetzt, daß überhaupt gewählt wurde; denn es kam vor, daß nur
durch Vorhalt von Strafen oder Belohnungen die Wähler zur Ausübung
ihres Bürgerrechts gebracht werden konnten. Damals also galt hierzulande
in vollem Umfang, was der Minister Flaum Persigny in seinem Wahlrund¬
schreiben vom Februar 1852 sagte: „Welche Verlegenheit sür die Wähler,
wenn die Regierung nicht selber die Männer ihres Vertrauens bezeichnete!"
1830 und 1848 bezeichnen die successiven Stöße, welche dieses System der
Unschuld erschütterten und nun stehen wir wiederum vor einer neuen Aera
des politischen Lebens, vor einer wenig erfreulichen, wie Viele meinen, die
sich nicht mehr an die jetzt erforderlichen Formen und Mittel der Agitation
gewöhnen können, und die der Ansicht sind, daß die Lebendigkeit der Wahl-
und Qualwochen mit Allem was dazu gehört in Presse, in Wirthshäusern
und auf der nächtlichen Straße, doch eigentlich über die Gemüthlichkeit hinaus¬
gehe. Indessen darf man allerdings von unsern erstmaligen Erfahrungen
noch keinen Schluß auf die Wirkung des allgemeinen Stimmrechts auf unser
Volk überhaupt sich erlauben. Denn es waren exceptionelle Verhältnisse.
Der Respect vor der Staatsordnung — wo nicht Kirchthurmsinteressen ihn
kriecherisch erheucheln — ist in Schwaben überhaupt nie besonders ausge¬
bildet gewesen. Er mußte aber vollends in die Brüche gehen, als man die
Vertreter der Negierung Arm in Arm mit der Demagogie das Treibjagen
auf die „gebildeten und besitzenden Klassen" veranstalten sah. Die Nach¬
wirkung der Zollparlamentswahlen ist ungleich tiefer, als diejenigen sich ein¬
bilden mochten, die unbekümmert Alles mit allen Mitteln zusammenrafften,
um der nationalen Partei eine Niederlage beizubringen, die doch nur ein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/250>, abgerufen am 17.06.2024.