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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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heißt es: "Republikaner in einer unbeschränkten, tief in Geschichte und Ge¬
sinnung der Nation wurzelnden Monarchie, Demokrat in Mitte eines Volkes,
das mit neidischem, aber auch mit begehrlichen Auge zu seiner mächtigen
Aristokratie hinaufsah, Protestant nicht dem Dogma, aber dem Geiste nach
unter gläubigen und ungläubigen Katholiken, vor Allem eine bestimmte, in
sich abgeschlossene Persönlichkeit, ein lebendiger Typus der eigenartigen In¬
dividualität unter Menschen, die zunächst und wesentlich nicht sie selbst, son¬
dern sich gegenseitig bedingende Mitglieder der Gesellschaft sind und sein
wollen -- das war Rousseau unter den Franzosen seiner Zeit. Kein Wun¬
der, daß er mit ihnen, wie mit sich selbst, in unlösbare Conflicte gerieth, die
das Glück und die Ruhe seines Lebens untergruben. aber auch als ein heil¬
sames Ferment seine geistigen Kräfte in jene fruchtbare Währung versetzten,
aus welcher seine weltbewegenden Gedanken hervorgegangen sind."

Der Erfolg bei den beiden Seiten, in welche die Darstellung des Lebens
und der Werke Rousseau's zerfällt, ist in den zwei Bänden des vorliegenden
Buchs etwas ungleich, was besonders im zweiten Bande, der neben Kleinerem
auch den Brief über die Schauspiele und den "Emil" bespricht, fühlbar wird.
Sichtlich hält die wissenschaftliche Kraft des Verfassers nicht ganz gleichen
Schritt mit seiner novellistischen Anlage, seiner künstlerischen Begabung sür
die Erzählung, für die Biographie im engeren Sinne. Bei dem letzteren
Fach unterstützt ihn eine reiche Lebens-, Welt- und Menschenkenntniß, eine große
Fertigkeit 'in der psychologischen Analyse, viel Beweglichkeit der Reflexion,
ein angenehmer Fluß der Rede, eine stets edle Diction und eine in seltener
Weise gewandte, auch der Auseinandersetzung der verwickelsten und delicatesten
Verhältnisse gewachsene Darstellung. Der Verfasser ist der ihm vorliegenden
Aufgabe, in einer der interessantesten Laufbahnen das unmerkbare Wachs¬
thum eines Zöglings des Lebens und der Studien, eines scharf ausgeprägten
Genius an der Hand von lauter regellosen Fäden einer völlig planlosen
Lebensführung zur Anschauung zu bringen, in der meisterhaften Entwickelung,
die er von Rousseau's Jugendgeschichte gibt, völlig gerecht geworden. In
der Eruirung des äußeren Thatbestands und der leitenden inneren Motive
zeigt er viel Geschick und Ausdauer; bei streitenden Berichten wägt er das
Für und Wider gewissenhaft ab; bei dem genauen Detail und der gründ¬
lichen Untersuchung, worin er mit Recht, Angesichts des schon durch das
Detail der LonfokKionK und der Korrespondenzen bei dem Leser angeregten
Interesses, einzugehen pflegt, ist er meistens im Stande, eine überzeugende
Entscheidung zu fällen, wohl aber auch fähig, zu Zeiten mit einem mein liqukt
abzuschließen. Zu vermissen ist. daß in den zwei Bänden, deren jeder 496
Seiten zählt, für die Orientirung des Lesers so gut wie nichts gethan ist,
sodaß es schwer hält, etwas ohne Mühe und Zeitaufwand aufzufinden. Kein


heißt es: „Republikaner in einer unbeschränkten, tief in Geschichte und Ge¬
sinnung der Nation wurzelnden Monarchie, Demokrat in Mitte eines Volkes,
das mit neidischem, aber auch mit begehrlichen Auge zu seiner mächtigen
Aristokratie hinaufsah, Protestant nicht dem Dogma, aber dem Geiste nach
unter gläubigen und ungläubigen Katholiken, vor Allem eine bestimmte, in
sich abgeschlossene Persönlichkeit, ein lebendiger Typus der eigenartigen In¬
dividualität unter Menschen, die zunächst und wesentlich nicht sie selbst, son¬
dern sich gegenseitig bedingende Mitglieder der Gesellschaft sind und sein
wollen — das war Rousseau unter den Franzosen seiner Zeit. Kein Wun¬
der, daß er mit ihnen, wie mit sich selbst, in unlösbare Conflicte gerieth, die
das Glück und die Ruhe seines Lebens untergruben. aber auch als ein heil¬
sames Ferment seine geistigen Kräfte in jene fruchtbare Währung versetzten,
aus welcher seine weltbewegenden Gedanken hervorgegangen sind."

Der Erfolg bei den beiden Seiten, in welche die Darstellung des Lebens
und der Werke Rousseau's zerfällt, ist in den zwei Bänden des vorliegenden
Buchs etwas ungleich, was besonders im zweiten Bande, der neben Kleinerem
auch den Brief über die Schauspiele und den „Emil" bespricht, fühlbar wird.
Sichtlich hält die wissenschaftliche Kraft des Verfassers nicht ganz gleichen
Schritt mit seiner novellistischen Anlage, seiner künstlerischen Begabung sür
die Erzählung, für die Biographie im engeren Sinne. Bei dem letzteren
Fach unterstützt ihn eine reiche Lebens-, Welt- und Menschenkenntniß, eine große
Fertigkeit 'in der psychologischen Analyse, viel Beweglichkeit der Reflexion,
ein angenehmer Fluß der Rede, eine stets edle Diction und eine in seltener
Weise gewandte, auch der Auseinandersetzung der verwickelsten und delicatesten
Verhältnisse gewachsene Darstellung. Der Verfasser ist der ihm vorliegenden
Aufgabe, in einer der interessantesten Laufbahnen das unmerkbare Wachs¬
thum eines Zöglings des Lebens und der Studien, eines scharf ausgeprägten
Genius an der Hand von lauter regellosen Fäden einer völlig planlosen
Lebensführung zur Anschauung zu bringen, in der meisterhaften Entwickelung,
die er von Rousseau's Jugendgeschichte gibt, völlig gerecht geworden. In
der Eruirung des äußeren Thatbestands und der leitenden inneren Motive
zeigt er viel Geschick und Ausdauer; bei streitenden Berichten wägt er das
Für und Wider gewissenhaft ab; bei dem genauen Detail und der gründ¬
lichen Untersuchung, worin er mit Recht, Angesichts des schon durch das
Detail der LonfokKionK und der Korrespondenzen bei dem Leser angeregten
Interesses, einzugehen pflegt, ist er meistens im Stande, eine überzeugende
Entscheidung zu fällen, wohl aber auch fähig, zu Zeiten mit einem mein liqukt
abzuschließen. Zu vermissen ist. daß in den zwei Bänden, deren jeder 496
Seiten zählt, für die Orientirung des Lesers so gut wie nichts gethan ist,
sodaß es schwer hält, etwas ohne Mühe und Zeitaufwand aufzufinden. Kein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/548>, abgerufen am 24.05.2024.